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Langsam lässt sich Rosa auf dem alten Bett nieder. Ihre Hand streicht sanft über die rotkarierte Bettwäsche. Mit ein paar Handgriffen schüttelt sie die weißen Herzpolster auf, die sie zur Auflockerung zwischen die Kopfkissen drapiert hat, und dann kann sie der Versuchung nicht widerstehen und sinkt in dieses wolkenweiche Federbett.
Wie lange hat sie nicht mehr in diesem Bett gelegen? "Jahrelang!", geht es ihr durch den Kopf. Nicht einmal um eine kleine Siesta zu halten, hat sie sich dort hineingelegt. Irgendwann wurde es zu einem Möbelstück degradiert, welches kaum noch seine Bestimmung fand. Ab und an schliefen die Enkelkinder drin, wenn sie zu Besuch kamen oder auch mal ein Gast. Rosa selbst verspürte seit langer Zeit keine Lust mehr, sich dort niederzulegen.
Seit Rosa den Entschluss gefasst hat, sich von dem alten Bett zu trennen, geht sie jeden Tag ein paar Mal in das Zimmer mit dem knarrenden Fußboden und den kleinen Giebelfenstern. Fast zwanghaft muss sie die Decke glatt streichen und dann, genau wie heute, steigen Bilder vor ihren verblassenden Augen auf.
Wunderschöne tiefbraune Augen hatte Rosa, doch inzwischen sind sie fast grau geworden. Sie haben das Strahlen und Blitzen verloren, das jeden Menschen in seinen Bann zog. Vielleicht liegt es daran, dass Rosa kaum noch etwas sehen kann – oder es liegt daran, dass sie mehr nach innen schaut. Ihre Seele noch einmal aufschließt und ihrem Herzen die Möglichkeit gibt, die alten Schmerzen zu verarbeiten.
Mit der Zungenspitze fährt Rosa über ihre trockenen Lippen, gerade so, als wollte sie fühlen, ob diese noch lebendig sind, ob sich hinter der rauen Haut noch Küsse schmecken lassen. Der leicht salzige Geschmack sagt ihr allerdings, dass es keine Küsse, sondern Tränen sind. "Nein", denkt Rosa, "ich werde doch diesem alten Holzgestell nicht nachweinen."
"Dem Bett sicher nicht, liebe Rosa", hört sie eine Stimme, "aber vielleicht willst du deine Erinnerungen nicht loslassen."
Rosa erinnert sich an die Kinder, die im gleichen Jahr geboren wurden, wie das Kind, das ihr nie geboren wurde. Sie sieht die braunen Locken von Markus Braun oder das freche Lachen der kleinen Brigitte Schmitt. Eine kleine Eifersucht war immer in ihr, weil diese Kinder lebten und ihres nicht. "Mach dir nichts draus", wurde Rosa von den Leuten getröstet, die von ihrer Fehlgeburt erfahren hatten. "Nächstes Mal klappt es ganz sicher." Rosa wollte kein nächstes Mal. Rosa wollte nicht einmal mehr ihr eigenes Leben, sie wollte weg sein, einfach nur ganz weit weg sein. Weg von all den Frauen mit den guten Ratschlägen, die zu wissen schienen, wie sie sich fühlte.
Rosa war zu einer ganz normalen Kontrolluntersuchung bei ihrer Frauenärztin. "Nehmen Sie noch einen Moment draußen Platz, ich lasse Sie rufen." Es dauerte und dauerte. Rosa musste noch kochen. Alex war es wichtig, dass er pünktlich sein Essen bekam, und sie saß da und musste warten. Nach über einer Stunde wurde sie wieder in das Sprechzimmer gerufen. "Ich gratuliere Ihnen, Sie sind im dritten Monat schwanger. Wir sehen uns in vier Wochen wieder, am 14. April also." Ein fester Händedruck und Rosa stand vor der Tür. Allein, ganz allein mit dem Wissen: "Ich bekomme ein Kind." Von einer zur anderen Sekunde war Rosa Mutter geworden. Natürlich nicht mit einem Baby im Arm, aber mit einem Baby im Bauch und im Herzen.
Alles konnte Rosa jetzt machen, aber niemals nach Hause gehen. Sie war viel zu aufgeregt und wollte dieses Gefühl des Neuen ganz für sich auskosten. Das Bimmeln einer Straßenbahn riss sie aus ihren Träumen. Gedankenverloren war sie mitten auf der Straße gegangen, hatte weder die Autos um sich herum, noch sonst irgendetwas wahrgenommen. "Ich sollte Alex anrufen", ging es ihr durch den Kopf. Doch auf dem Weg zur Telefonzelle kam sie an einem Geschäft für Babyausstattung vorbei. Rosa vergaß den Anruf und drückte den goldenen Türgriff herunter. Ein Glockenspiel kündigte sie als vermeintliche Kundin an. "Komme sofort", ertönt eine Stimme aus einem hinteren Raum.
Rosa war dankbar für den Moment des sich Findens in diesem neuen Ambiente. Noch nie in ihrem Leben hatte sie ein Kindergeschäft betreten. Sie fühlte sich verloren und glücklich zugleich. Ihr Blick blieb an einem rosa Strampelanzug hängen. Das Vorderteil war bestickt mit kleinen rosa Röschen und weißen Gänseblümchen. Rosa wunderte sich, wie man solch kleine Blumen überhaupt sticken konnte. "Sie haben sich das schönste Stück ausgesucht", hört sie die Stimme von eben neben sich, "wir haben nur zwei dieser entzückenden Modelle bekommen. Wann ist es denn soweit?" Rosa weiß im ersten Moment nicht, was sie sagen soll, ja auch nach längerem Überlegen weiß sie es nicht. Die Ärztin hat etwas von drittem Monat gesagt, aber wann? Nein, darüber hatten sie nicht gesprochen.
"Ich glaube im Oktober", sagt Rosa rasch, nachdem sie sechs Monate hinzugerechnet hat. "Sie haben es eben erst erfahren, hab ich recht?", fragt die Verkäuferin und lächelt Rosa an. "Ja, eben vor fünf Minuten. Eigentlich wollte ich meinen Mann anrufen, aber dann sah ich die süßen Babysachen und konnte nicht vorbei gehen." Rosa sagt zum ersten Mal "mein Mann". Natürlich hat sie den Namen schon hundertmal geschrieben. Rosemarie Theresa Heinzmann. Mal mit beiden Vornamen, mal nur mit einem "T" in der Mitte, dann hatte sie es mit "Rosa" probiert. Seiten hatte sie gefüllt mit ihrem und seinem Namen.
Hochzeit, darüber hatten sie und Alex eigentlich noch gar nicht gesprochen. Im Moment war es auch nicht wirklich harmonisch. Aber wenn Alex hörte, dass sie ein Baby bekamen, dann würden sie ganz schnell heiraten. "Ihr Mann weiß noch nichts, von seinem Glück, dass er Papa wird?" "Nein, ich wollte doch gerade erst ..." "Wie wäre es, wenn ich Ihnen diesen Strampelanzug einpacke und sie legen ihm das Päckchen auf das Kopfkissen. Sie glauben nicht, was das für ein Herzöffner bei jungen Vätern ist, und damit wir gar nichts falsch machen, würde ich Ihnen raten, den weißen Anzug zu nehmen. Wissen Sie, junge Frau, ich freue mich so mit Ihnen, dass ich Ihnen einen Sonderpreis mache. Statt der fünfzig, berechne ich Ihnen ausnahmsweise nur fünfundvierzig Mark.
Rosa wird ganz blass. Sie bekommt fünfzig Mark Haushaltsgeld für die ganze Woche, und heute ist erst Montag. Sie öffnet ihre Geldbörse und zählt nach, drei Zehnmarkscheine, ein Zwanzigmarkschein und noch sieben Markstücke und vierundfünfzig Pfennig. Wenn sie diesen süßen Babyanzug kauft, bleiben für die restliche Woche gerade mal zwölf Mark und vierundfünfzig Pfennig. Alex wird sich so freuen, dass er mich versteht, ist sich Rosa ganz sicher.
Die Verkäuferin macht ein ganz reizendes kleines Päckchen, versieht es mit rosa und blauem Seidenband und überreicht es Rosa mit einem lächelnden "Danke für den Einkauf, ich wünsche Ihnen und Ihrem Mann alles Gute, besuchen Sie mich doch wieder. Ich bin ganz neugierig, was Ihr Mann zu der Überraschung sagt".
Die Fenster oben unter dem Dach sind noch alle dunkel. Rosa öffnet erlöst die Haustür, geht als erstes in ihr Schlafzimmer, legt das kleine Schächtelchen auf das Kopfkissen und danach in die Küche. Sie überlegt gerade, ob sie eine Flasche Sekt kaltstellen soll, aber da hört sie Alex' Schritte schon auf der Treppe. Sie hat nicht einmal angefangen zu kochen. In ihrer Not fällt ihr die Dose Ravioli ein. Als Alex die Tür aufmacht, hat sie die Nudeltaschen schon im Topf.
"Ich zieh mich um und bin dann gleich da", sagt Alex, nachdem er Rosa kurz in den Arm genommen und ihr einen flüchtigen Kuss gegeben hat. "Was ist das?", will er wissen. "Was denn", fragt Rosa, obwohl sie natürlich weiß, was er meint. "Der Kasten auf meinem Kopfkissen?" "Schau es dir doch an, dann weißt du es", lacht Rosa.
Rosa sieht diese Szene so scharf vor ihren trüben Augen, dass sie sich in das Jahr neunzehnhundertfünfundsechzig zurückversetzt fühlt. Ihre Hände greifen in die dicke Decke. Warum hat sie sich heute nur in dieses Bett gelegt? Warum? Ihr Blick fällt auf den Kalender. Ein hellblaues Vergissmeinnichtherz schmückt den Monat März – und heute ist der 14. März ...
Hier geht es zum ersten Teil der Erzählung: "Das alte Bett"
© "Das alte Bett: Rosa erinnert sich" – eine Erzählung der Autorin Ute AnneMarie Schuster. Bildnachweis: Frosch geht schlafen, CC0 (Public Domain Lizenz).
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