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Deutschland, England oder irgendwo in Amerika
Sie ist zehn Jahre alt und ihre Mutter weckt sie für die Schule. Im Bad ist sie schnell fertig – jedenfalls so schnell, wie es geht für jemanden, der noch ziemlich verschlafen ist. Als sie in die Küche kommt, ist sie einigermaßen wach und will frühstücken. Ihr jüngerer Bruder grinst unverschämt, als sie nach der Milchpackung greift, denn die ist leer und der Inhalt befindet sich in seiner Müslischüssel, wo er eine abenteuerlich aussehende Kollage von verschiedenen Cerealien erstellt hat.
Bevor es zu dem typischen morgendlichen Gezänk kommt, stellt die Mutter eine neue Milchtüte auf den Tisch und alles ist wieder in Ordnung. Es ist schon wieder etwas spät geworden, und nach einem Blick auf die Küchenuhr bindet Mutter den Zopf der Kleinen neu, während diese ihre restlichen Flakes isst. Der Ranzen ist gepackt, sagt die Kleine – aber jeder in der Familie weiß, dass sie noch mindestens zweimal die Treppe rauf und runter rennen wird, um irgendetwas zu holen, das noch in den pinkfarbenen Tornister muss. Es gehört einfach dazu. In das Gekichere und Geschubse, das den normalen Geräuschhintergrund an einem Morgen bildet, drängt sich das Dingdong der Türglocke – und kurz darauf ist das Mädchen draußen.
Wie jeden Tag wartet ihre Freundin draußen – sie wohnt zwei Häuser weiter und holt das Mädchen ab, damit sie gemeinsam zur Schule gehen können. Der Weg ist nicht weit, es dauert nicht länger als fünfzehn Minuten, bis das Schulgebäude vor den beiden auftaucht, aber den ganzen Weg über haben sie gekichert, geflüstert und gelacht. So wie jeden Morgen. Sie sind Banknachbarinnen, nach der Schule werden sie sich trennen für das Mittagessen zuhause und die Schularbeiten. Aber spätestens nach fünfzehn Uhr sind sie wieder zusammen, entweder bei der einen oder der anderen daheim oder irgendwo in der Stadt, um ihr Taschengeld auszugeben. Meist stoßen noch andere Freundinnen dazu und es wird eine Menge Spaß geben. Manchmal streiten sie sich auch, aber das dauert nie lange.
Es ist schon ziemlich warm draußen, und das Mädchen wird in der Garage nachsehen, ob die Schläuche an ihrem Rad noch in Ordnung sind für den kommenden Sommer. Das wird toll werden, die Radeltouren mit den Mädels. Wenn sie flicken muss, wird Vater helfen, wo sie es nicht alleine hinkriegt. Außerdem freut sich das Mädchen auf Freitagabend, denn da werden sie und noch ein Mädchen bei ihrer Freundin schlafen. Deren Mutter macht jede Menge Popcorn, und sie werden länger aufbleiben dürfen, weil keine Schule ist und sie sich gleich zwei coole DVDs ansehen.
Afghanistan, Jemen oder irgendwo in Afrika
Sie ist zehn Jahre alt und seit Sonnenaufgang auf den Beinen. Sie hat das Vieh gefüttert und schon den ersten Gang zum Brunnen hinter sich gebracht. Der im Dorf ist trocken, wie immer um diese Jahreszeit, und man muss gute fünfzehn Minuten laufen, um an Wasser zu gelangen. Ihr Mann ist noch nicht aufgestanden, aber das wird er gleich tun, weil er aufs Feld geht mit seinem Bruder, der im gleichen Haus lebt, in dem er auf der anderen Seite des kleinen Hofes lebt. Verheiratet ist sie, seit sie acht Jahre alt ist – ihr Vater hat sie nicht gefragt, ob sie das will.
Ihr Mann ist viel, viel älter als sie ... fast so alt wie ihr Vater. Er ist kein freundlicher Mann, er redet nicht mit ihr. In der ersten Nacht hat sie geweint und geschrien, dann nie wieder. Er schlägt sie, wenn sie nicht seine Ehefrau sein will. Oft ist sie krank – wenn es eine schlimme Nacht war, hat sie große Probleme mit dem Gehen, das macht ihr das Wasser holen schwer. Er stößt sie herum, wenn sie nicht schnell genug ist mit dem Tee bereiten oder sonst einer Arbeit – auch der Bruder sieht sie böse an. Er hat auch eine Frau, die jünger ist, aber sie hat schon drei Kinder und man sieht sie nicht oft. Das Mädchen sehnt sich nach jemandem, mit dem sie reden kann – daheim gab es die Mutter und die beiden Schwestern. Aber hier gibt es keinen Menschen für sie.
Der Rauch der Feuerstelle steigt ihr in die Augen, als sie mit geschickten Fingern die dünnen Teigfladen auflegt, die das Frühstück für den Mann und sie sein werden. Die Fladen dürfen nicht zerreißen und müssen genau die richtige Farbe haben, sonst wird ihr nachher wieder der Kopf wehtun. Er schnalzt missbilligend mit der Zunge, dann schlägt er ihr im Vorbeigehen an die Schläfe. Das tut er, wenn er in guter Stimmung ist. Ist er das nicht, tritt er nach ihr und schreit.
Ihr Vater hat ihr nicht einmal gesagt, dass er sie verheiratet hat – das hat er der Mutter überlassen. Das Mädchen hat wohl gesehen, dass sie geweint hatte, obwohl sie ihre Tränen verstecken wollte. Dann hat ihre Mutter ihr Sachen gesagt, aus denen das Kind nicht schlau wurde. Es ging darum, dass alles, was geschehen würde, so sein müsste. Und dann seufzte die Mutter und sagte etwas wie, dass er vielleicht doch warten würde.
Damals hatte das Mädchen nicht verstanden, was gemeint war – aber in der ersten Nacht im neuen Heim erfuhr sie es. Die Hoffnungen der Mutter erfüllten sich nicht. Es hatte Schmerzen gegeben, dann Geschrei und Prügel und Blut, viel Blut. Jetzt hört sie ihn im Alkoven, er wird jetzt sein Frühstück wollen und sie hofft, dass er gute Laune hat. Dann denkt sie daran, dass sie ihn noch bitten muss, die Hacke zu richten, mit der sie nachher arbeiten muss. Die Bohnen müssen gesetzt werden, es ist höchste Zeit. Und dann wird sie noch Wasser brauchen, viel Wasser. Wenn ihr nur der Rücken nicht so wehtun würde.
© "Frauenrechte: Gegen Gewalt und Zwangsheirat". Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2011. Bildnachweis: Justitia mit Waage, CC0 (Public Domain Lizenz).
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