|
Kinder lieben Tiere – oder sie wollen sie jedenfalls haben. Und da fällt mir der Sohn einer Bekannten ein, der sehr anfällig ist für spontane Adoptionen. Die Mutter hätte eigentlich gewarnt sein sollen, als es den Sprössling zu einer Reptilienbörse zog, die in der Stadt abgehalten wurde. Denn er, bzw. der achselzuckende Vater sowie sein Sohn kamen nicht alleine zurück. Sie hatten Verstärkung für die Familie dabei und trugen recht schwer an ihrer Last. Es handelte sich um zwei junge Bartagamen nebst Übergangsterrarium, einem riesigen Beutel mit speziellem Sand, einer Wärmeplatte für den Boden und einer Lampe.
Bei dieser Art von Echsen handelt es sich nämlich um Wüstentiere, wie man die Bekannte dann auch begeistert belehrte. Nachdem sie zweifelnd die hübschen kleinen Echsen bewundert hatte, hörte sie ein feines Zirpen. Eines, das an Sommerabende auf der Veranda erinnerte ... ein recht angenehmes Geräusch eigentlich, aber im Wohnzimmer doch ungewöhnlich. Als sie sich dann endlich dazu durchrang, danach zu fragen (ab einem gewissen Alter ist man Geräuschen gegenüber, die man scheinbar als einziger wahrnimmt, etwas misstrauisch), kam eine beruhigend gemeinte Antwort: "Das sind die Heimchen ... die Agamen fressen die." Dann wurde eine Klarsichtbox zutage gefördert, die etwa zwanzig dieser lebenden Mahlzeiten enthielt. Recht laute kleine Imbisse, könnte man sagen.
Das Haus der Familie verwandelte sich bald in eine Sommerwiese, denn immer wieder entkam eines der unscheinbaren kleinen Tiere. Man hörte sie überall ... in der Küche, im Wohnzimmer, und wenn man schlafen wollte, sowieso. Sonderbarerweise störte das am allermeisten den Verantwortlichen – er fühlte sich um seine Nachtruhe betrogen, verbannte die Tiere in den Hausflur und kümmerte sich nur um sie, wenn er einige aus ihrer Box holte, um sie den Echsen zu servieren. Er fand das sehr spannend, wenn er auch die Heimchen nicht besonders gerne anfasste. Ein gelinder Ekel überkam ihn nämlich dabei. Als er an Übung gewann – das Einfangen und Servieren betreffend – wurde es viel stiller im Haus. Und sonderbarerweise begann das meine Bekannte zu stören. Sie fing an, sich für dieses "Ungeziefer", wie der tierliebe Echsenhalter die kleinen Sänger nannte, zu interessieren. Nebenbei bemerkt, hatte sie die erfolgreich Geflüchteten eingefangen und in den Garten gebracht, was ihr keine Sympathien eintrug.
Sie erfuhr, dass die Heimchen, bzw. eine Art davon, in China gern in kleinen Graskäfigen als Alleinunterhalter gehalten werden – dort sind ältere Herren, die im Teehaus sitzen und ihre winzigen Musiker dabeihaben, ein normales Bild. Und schließlich ist das "Heimchen am Herd" kulturelles Gemeingut. Bei der Geschichte von Charles Dickens handelt es sich zwar um eine tatsächliche Grille, die hochdramatische Geschehnisse in einem Haushalt bezirpt, aber die Bezeichnung hat sich für "weltfremde Hausmütterchen ohne Ambitionen" bei uns eingebürgert.
Die Bekannte nun stellte mit Entsetzen fest, dass der Sprössling die Tiere tatsächlich nur als Futter für seine favorisierten Agamen ansah – er vergaß ständig, die Heimchen zu füttern. Er realisierte nicht, dass auch sie ein Recht auf anständige Behandlung haben und nannte sie wegwerfend "Ungeziefer". Als die Mutter nun eines Tages sehr viele tote Tierchen fand, war Schluss damit. Sie besorgte einen großen durchsichtigen Behälter mit genügend Luftlöchern, legte Versteckmöglichkeiten hinein und fütterte die Heimchen regelmäßig. Vor allem aber behielt sie diesen Behälter in ihrer Nähe – erstens, um selber dafür zu sorgen, dass die Kleinen genug zu fressen hatten, und zweitens ... weil ihr die Musik gefiel. Die ist nämlich sehr beruhigend für die Nerven.
Zwar hatte sie versucht, ihre Sicht der Dinge darzulegen, die darin besteht, dass Heimchen und Agamen aus denselben Bausteinen bestehen, kam damit aber nicht so recht weiter. Sie kannte das: die Sache mit den Schweinen und anderen Futtertieren für Menschen, denen trotz ihrer Bestimmung eine gute Behandlung zustand, war auch nie wirklich realisiert worden. Nun ja – Schweine zirpen eben nicht. Aber was macht das schon aus.
© "Schweine zirpen nicht": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2011. Illustration: Thomas Alwin Müller, littleART.
Archive:
Jahrgänge:
2022 |
2021 |
2020 |
2019 |
2018 |
2017 |
2016 |
2015 |
2014 |
2013 |
2012 |
2011 |
2010 |
2009
Themen:
Rezensionen |
Krimi Thriller |
Ratgeber |
Sagen Legenden |
totem bedeutung |
Fantasy Mythologie
Noch mehr Bücher lesen (Werbung):
Fantasy & Science Fiction
| Krimis & Thriller
| Ratgeber
| Reise & Abenteuer
Sie schreiben anspruchsvolle Romane und Erzählungen? Wir suchen neue Autorinnen und Autoren. Melden Sie sich!
Wenn Sie die Informationen auf diesen Seiten interessant fanden, freuen wir uns über einen Förderbeitrag. Empfehlen Sie uns auch gerne in Ihren Netzwerken. Herzlichen Dank!
Sitemap Impressum Datenschutz RSS Feed