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Es ist früh am Morgen, an der sonst viel befahrenen Straße stehen Menschen jeder Altersgruppe. Polizisten gehen auf der Fahrbahn an den Bürgersteigen vorbei und nicken freundlich lächelnd den Leuten dort zu, einige tragen eine kleine Frühlingsblume am Revers ihrer Uniform. Kinder spielen laut lachend und rufend Fangen um die Beine der Wartenden herum. Es ist noch recht kalt, und der Atem löst sich als weißer Dampf von den Lippen der Menschen an diesem Morgen.
Viele Gruppen haben sich gebildet, viele größere und kleine Kreise, in denen mal ruhig und dann wieder lauter diskutiert wird. Eine Gruppe von Punkern mit perfekt gestylten Kunstwerken auf dem Kopf steht um eine sehr alte Dame herum, die sich mit einer Hand auf ihren Rollator stützt und mit der anderen lebhaft gestikuliert. "Natürlich hat man Angst, wisst ihr." Dann geht ein verschmitztes Lächeln über das Gesicht der Greisin, das dadurch in hunderte von Fältchen gelegt wird. "Aber man darf ihnen nicht zeigen, dass man Angst hat." Die Punker lachen und einer holt einen Becher mit heißem Tee von einem fliegenden Stand für die alte Frau.
Der türkische Gemüsehändler, der seinen Laden in der Straße hat, verteilt großzügig gefüllte Fladenbrote. Als manche fragen, was es kosten soll, winkt er ab und lächelt. Er stürzt fast über seine kleine Tochter, die mitten auf dem Pflaster sitzt und sich kichernd mit einem rothaarigen Jungen zusammen ein Comic-Heft ansieht. Hier und da hört man die Klingeltöne von Handys, immer wieder geht jemand ein wenig zur Seite und führt ein Gespräch. Presseleute sind da, in sehr großer Zahl sogar, und tatsächlich hat sich eine ganze Flotte von Übertragungswagen eingefunden heute Morgen. Es liegt etwas in der Luft, etwas Besonderes – etwas, das man nicht benennen könnte, aber es ist anders als sonst.
Die besondere Stimmung liegt über der immer mehr anwachsenden Menge von Wartenden wie Glanzfolie, heute ist ein besonderer Tag. Hier und da spricht jemand in ein Mikrophon, das man ihm vor das Gesicht hält, beschreibt seine Stimmung und seine Erwartungen an diesem Tag, an dem der größte organisierte Aufmarsch der Rechten überhaupt stattfinden soll. Es wird mit mehr als tausend Mann gerechnet, die vom Bahnhof der großen Stadt durch den Stadtkern bis zum Denkmal für die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges ziehen werden. Die Zahl der Menschen an der Hauptverkehrsstraße wächst minütlich an, mittlerweile gibt es vom Bahnhof bis zum Kriegerdenkmal kaum noch eine freie Stelle ... es ist fast wie bei den großen Faschingsumzügen. Ein Mann aus der Menge bemerkt das und meint: "Na, Bonbons werden die wohl nicht werfen heute." Die Umstehenden feixen und geben den Spruch weiter.
Ein älterer Typ mit schütterem, langem Haar und Umhängetasche meint: "Na, Bonbonpapierchen mit kleinen Hakenkreuzchen drauf, das wär doch was." Wieder Gelächter, die in der Nähe stehenden Polizisten grinsen. Hier und da gehen Leute zur Seite, um Rollstuhlfahrer zur ersten Reihe durchzulassen, niemand macht Aufhebens davon. Das Polizeiaufgebot hat sich ebenfalls vergrößert, die Menschen werden ermahnt, sich friedlich zu verhalten und provokante Aktionen zu unterlassen. Das geschieht sehr ruhig und freundlich, keiner macht Probleme deswegen. Jetzt stehen Menschen auch an den weit geöffneten Fenstern, die zur Straße liegen, die Spannung steigt. Dann verkündet ein Reporter, dass soeben der Sonderzug in den Bahnhof einfährt. Jetzt wird es nicht mehr lange dauern, das ist jedem bewusst, und so werden die Kinder eingesammelt und an die Hand genommen, Hunde werden kürzer an der Leine gefasst.
Niemand hat eine Vorstellung, wie die Aktion ablaufen wird, alle sind bis zum Zerreißen angespannt – und immer noch liegt der junge Morgen wie Blattgold über allem. Die alte Dame mit dem Rollator hat zu der Gruppe Punker gesagt vor einer halben Stunde: "Kinder, das ist ein Morgen für ein Wunder – das liegt so richtig in der Luft. Spürt ihr das nicht?" Gutmütiges Lachen antwortet ihr und die Gruppe Paradiesvögel stellt sich unauffällig so, dass die Alte in der Mitte steht und gut geschützt ist. Und dann geschieht das völlig Unerwartete. Unter starker Präsenz der Ordnungskräfte ordnen die sich auf verschiedene Weise angekommenen Rechten vor dem Bahnhof. Die Transparente werden entrollt und martialisch dreinschauende schwarz gekleidete Männer halten die Stangen. Sonnenbrillen überall und vor allem Stiefel. In der Mitte des Zuges gehen Frauen mit Kindern ... in Kinderwagen, an den Händen der Mütter und auf den Armen getragen.
In erstaunlich kurzer Zeit sind die Rechten formiert und der Zug setzt sich in Bewegung. Hinter den Sonnenbrillen versteckt suchen Augen die dichte Menschenmenge rechts und links der Fahrbahn ab, zusammengepresste Kiefer demonstrieren Stärke. Dann ein Pfiff, Trommelwirbel, die von irgendwoher aus der Masse der Rechten kommen, dann setzt sich der schwarze Lindwurm mit schwankenden Transparenten in Bewegung. Die Menschen am Straßenrand haben sich ruhig verhalten, so ruhig, dass es fast still ist – es sind keine Parolen gegen Rechts zu hören, kein Schreien und keine gebrüllten Anklagen. Ein mittlerweile herrlich sonniger, goldener Morgen, der auf einmal wie eine Filmszene mit abgedrehtem Ton ist. Die Trommler verlieren etwas den Takt, fangen sich aber mühsam wieder.
Und auf einmal drehen sich die Menschen auf den Bürgersteigen weg, schweigend drehen sie den Marschierenden den Rücken zu. Einer nach dem anderen tut das, es ist wie eine Art Wasserballett mit Dominoeffekt. In völligem Schweigen findet wie auf ein unhörbares Kommando eine kollektive Abwendung statt. Leise werden die Fenster an den Häuserfronten geschlossen, eines nach dem anderen. Das Korps der Schwarzen geht an abgewendeten Menschen vorbei, der markige Schritt und die hochgereckten Kinne ... die dekorativen Mütter mit Kindern ... all das ist auf einmal nicht mehr in der Wahrnehmung der Menschen. Wie hilfesuchend irren die durch dunkle Gläser geschützten Augen über die Menge, aber niemand zeigt sein Gesicht, nicht einmal die Ordnungskräfte.
Kein Reporter sieht hin, niemand will hinsehen und niemand gibt einen Laut von sich. Für die Stechschrittler ist es, als würden sie auf dem Grund eines Sees marschieren, sie verlieren den Gleichschritt und es kriecht etwas in ihnen hoch – etwas, das immer in ihnen ist und das jetzt völlig ungehindert hervorbricht: Angst. Hunderte von Menschen entfernen die Rechten an diesem Tag aus ihrer Wahrnehmung, sprechen ihnen alles ab, verweigern die Kenntnisnahme.
Wann das Wunder nun tatsächlich eingesetzt hat, weiß keiner. Als sich die ersten abwandten oder als am Kriegerdenkmal nur noch vereinzelte Schwarzgekleidete in aufgelöster Ordnung ankamen? Denn die Transparente sind verschwunden, die Frauen mit den Kindern haben sich vom Zug getrennt. Wie und wo, weiß man nicht – es hat ja keiner hingesehen. Der Rest verliert sich schnell, wird aufgesogen von der Menschenmenge und vom Nichts. Kurz vor dem Aufwachen, das ich gerne hinausgezögert hätte, höre ich noch die alte Frau rufen: "Seht ihr, das hab ich gleich gesagt!"
© "Imagine – Einen Traum habe ich gehabt": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2011. Bildnachweis: Roter Abendhimmel, CC0 (Public Domain Lizenz).
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