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Es waren harte Zeiten – damals, als es noch keine allgemein zugänglichen virtuellen Orte der Gemütlichkeit und der Kurzweil gab. Nun ja, einen gab es – und das sogar noch vor der Einführung des Farbfernsehens. Die Rede ist von einem riesigen überdachten Biergarten mit einem unglaublich netten und lustigen Wirt, einem Thekensteher, der als getarnter Stand-up-Comedian hier und da "trockene Einlagen" zu der allgemeinen Weinseligkeit beisteuerte – und natürlich eine resolute und überaus sympathische Wirtin. Die trug natürlich Dirndl und eine adrette Lockenfrisur und war der Prototyp von Mutter Beimer – nur nicht neurotisch, sondern eher der Typ "steht mit beiden Beinen und den Armen voller Äppelwoi-Krüge fest auf der Studioerde".
Lange bevor die Seifenopern Einzug in deutsche Wohnzimmer hielten, war die beliebteste Weinstube der Nation an jedem Samstag ... oder war es Sonntag ... überfüllt. Denn der "Blaue Bock" gehörte ab 1957 ebenso zum Wochenendritual wie die Sportschau. Dort traf man alle angesagten Sänger(innen), über die unsere Republik verfügte, vom Tenor bis zur Blasmusi-Kapelle und sogar Importen aus Europa, wie Gitte Haenning oder Nana Mouskouri, Rita Pavone und natürlich Vico Torriani und anderen Stimmungskanonen. Alles schunkelte, alles hob begeistert die Äppelwoi-Bembl und sang mit.
Es war, nicht anders als heute, eine Inszenierung von grandioser Unechtheit – aber es gefiel nun einmal. Ob nun ein weißhaariger Herr den "Goldenen Rheinwein" besang oder das legendäre Medium-Terzett die eingedeutschte Fassung von "There's a hole in my bucket" zum Besten gab – für Unterhaltung war gesorgt. Ob nun in Duoton oder farbig, ganz Deutschland hatte sein bevorzugtes Lokal. Natürlich gab es auch andere allgemeine Treffpunkte, wie zum Beispiel die Haifischbar, die eher das Lokalkolorit des Nordens repräsentierte und sich ebenfalls großer Beliebtheit erfreute. Das kleinere und weit weniger gutbürgerliche Hafenlokal hatte auch Gäste aus dem ganzen Land – wenn es auch mit dem Frohsinns-Tempel "Blauer Bock" nicht mithalten konnte.
Für die eingefleischten Lederhosenfans gab es selbstverständlich auch etwas: das "Baierische Bilder- und Notenbüchl" mit Wastl Fanderl. Es handelte sich um eine Art rustikaler Bauernstube gepflegter Art mit jeder Menge Trachtenträgern, die allesamt Zither spielen konnten und vor allem jodelten. Der Conferencier war ein Bilderbuch-Bayer und äußerst sympathisch, wenn auch mehr der Künstlertyp als der schnauzbartbewehrte "Host mi Eingborene".
Tatsächlich füllten diese Orte der Begegnung die Rolle aus, die heute die verschiedenen Online-Communitys haben – nur auf andere Weise interaktiv. Anders als heute konnte man zwar nicht direkt bei der Ausstrahlung kommunizieren, dafür aber waren die Ereignisse in der Lieblingslokalität das Thema bei der Arbeit, beim Einkaufen, beim Kaffeeklatsch. Das betraf vor allem die Vorläufer aller Dauerserien, wie zum Beispiel "Familie Hesselbach" oder "Die Unverbesserlichen". Die nämlich waren etwas, das erst in letzter Zeit wieder erfunden wurde: eine fast normale Familie mit real nachvollziehbaren Sorgen und Problemen wie Geldknappheit, Ärger mit den Kindern oder der Oma. Geknutscht wurde nicht oder fast nicht, dafür waren die Szenen ebenso wie die Dekoration unglaublich authentisch.
Die Königin aller Fernsehmütter, Inge Meysel, traf genau den Nerv der Nachkriegsgeneration. Man arbeitete, man rackerte sich ab und versuchte die Generationen unter einen Hut zu kriegen. Das gab es eigentlich nie wieder in dieser Form, denn mit den Leuten von der Southfork Ranch konnte man sich nur bedingt identifizieren – schließlich haben die Zuschauer selten Ärger mit Geschäften, bei denen es um mehrere Millionen Dollar geht – jedenfalls nicht, wenn sie der Durchschnittsbevölkerung angehören. Bei Serien dieser Art ging es nicht um Realität, sondern um die Flucht vor genau dieser. Der Spaß bei den alten Sendungen war der Gleiche wie beim Kino: das Diskutieren danach war der Kick. Da man sich "damals" nirgendwo einloggen konnte, um seinen Senf oder auch seine Meinung loszuwerden, sprach man miteinander oder keifte sich unter Umständen auch an.
Im Gegensatz zu heute fürchterlich altbacken und geruhsam – aber trotzdem hat es noch nicht einmal Thomas Gottschalk oder Dieter Bohlen fertiggebracht, was die berüchtigten mehrteiligen Straßenfeger von Francis Durbridge (z. B. "Das Halstuch", 1962) auf die Beine stellten. Denn tatsächlich waren an den Abenden, an denen die Fortsetzungen ausgestrahlt wurden, die Straßen leer – bis auf unglückliche Hundebesitzer oder TV-lose Außenseiter vielleicht. Man hätte nackt an der Bushaltestelle stehen können – niemand hätte das bemerkt. Die Deutschen wurden allesamt zu Detektiven in dieser Zeit – es gab kaum ein anderes Thema. Wetten wurden abgeschlossen und Freunde verkrachten sich, ganze Familien spalteten sich in verschiedene Lager. Spannend war es, und mehr als unterhaltsam. Es war schon Kult, als es Gegenwart war.
Heute kann sich niemand mehr vorstellen, dass Kinder unter dreizehn Jahren bei den Krimis von Edgar Wallace Fernsehverbot hatten, damit sie keine Albträume bekamen – wo heutzutage schon in der Sesamstraße härtere Sachen zu sehen sind als diese unfreiwillig komischen Filme. Diese betuliche Zeit wünscht sich sicherlich niemand zurück, nur vielleicht den einen oder anderen Teilaspekt wie die wache Wahrnehmung. Die Zuschauer nahmen das Fernsehprogramm (das ja auch nur bis kurz vor Mitternacht ausgestrahlt wurde) sehr ernst. Kaum jemand ließ in jedem Raum der Wohnung einen Fernseher laufen, während er etwas anderes tat. Man sah tatsächlich hin und machte sich seine Gedanken darüber – der Ex-und-hopp-Konsument war noch nicht erfunden worden und grelle Flashs spielten noch keine Hauptrolle. Es kam auf den Inhalt an ... auch wenn der manchmal so seicht war wie eine riesige Äppelwoi-Pfütze.
© "Rückblende TV-Serien: Inszenierungen von grandioser Unechtheit": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2011. Bildnachweis: Konzert Licht-Show, CC0 (Public Domain Lizenz).
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