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1941 – irgendwo in Deutschland: "Darf ich aufstehen?" Der Junge mochte etwa 17 Jahre alt sein, er trug die Haare zu einer sorgfältig zurechtgedrückten Frisur gekämmt. Der Vater nickte und öffnete den oberen Westenknopf. "Dass du mir aber nicht wieder so spät heimkommst, Junge. Und lass dir endlich die Haare schneiden, es sieht so unordentlich aus." "Ja, ich weiß Mutter, ausrasierte Nacken und zwei Zentimeter Freifläche über den Ohren."
Die Frau am Tisch schloss in gequälter Pose die Augen. "Sag du doch endlich einmal etwas, Karl." Der Angesprochene schob den Stuhl zurück und erhob sich, um mit seinem Sohn das Zimmer zu verlassen. "Lass gut sein, Mutter, die Haare sind nicht wirklich das Problem." Draußen, vor der Wohnungstür, sah er dem trotzig dreinblickenden jungen Mann in die Augen und legte ihm eine Hand auf die Schulter. "Pass auf dich auf, Werner." Dann drückte er ihm einen Schein in die Hand.
Werner atmete auf, als er endlich auf der Straße stand. Es war ein diesiger Herbstabend und es sah nach Regen aus. "Fine", dachte er sich und machte sich auf den Weg, den Regenschirm aufgespannt und den Hut ein wenig schräg auf dem Kopf. Seit mehreren Monaten war es nicht ungefährlich, sich so sehen zu lassen – in einer Zeit, in der alle kurze Haare und vor allem die Montur der HJ trugen. Werner hatte großkarierte Sakkos, Mäntel und gepflegte Schuhe – er trug das lange Deckhaar in Form gekämmt und den Nacken lang. Er war ein Swing-Boy.
Ab dem Jahr 1940 wurde es Jugendlichen unter 18 Jahren verboten, an öffentlichen Tanzveranstaltungen teilzunehmen. Und nun traf man sich eben privat. Der Swing galt bei den nationalsozialistischen Machthabern als entartet, als undeutsch. Es war die Musik, der Rhythmus und die Atmosphäre, die Werner anzogen, aber es war auch etwas anderes: die Rebellion gegen alles, was von der HJ beziehungsweise vom "Führer" kam. Gleichschritt, Drill im Zeltlager und deutsche Wanderlieder waren etwas, das auf einen anderen Planeten gehörte. Die Partys in den privaten Swingkellern waren so etwas wie ein Ausbrechen aus der zunehmend graubraunen und bedrohlichen Realität.
Zu den Swing-Boys und -Girls gehörten Jugendliche aus allen Schichten, das Gros machten allerdings die eher bürgerlichen Söhne und Töchter aus. Manche Eltern hatten Verständnis dafür, so wie Werners Vater – aber Angst hatten alle. Die "Swings" mit ihren unangepassten Klamotten und den trotzig benutzten Anglizismen wurden immer mehr als Gefahr angesehen. Das Abschneiden der Haare oder Prügel waren das Mindeste, was auf die Betroffenen zukam.
Die Bewegung, die sich in den großen Städten Deutschlands etabliert hatte, war zunächst nicht politisch gewesen. Es ging darum, dass man etwas mochte, das nicht gern gesehen wurde und wofür man so einiges auf sich nahm. Den Swing zu mögen war an sich schon Widerstand, mehr als Witze über die Machthaber oder die HJ zu reißen. Aber durch die Repressalien gegen die Swing-Jugend wurde es eben auch politischer. Es gab zahlreiche Jugendliche, die sich im Widerstand zusammenschlossen, vor allem nach 1940 – die Gruppen gaben sich Namen wie zum Beispiel die Navajos, die Leipziger Meuten oder die Edelweißpiraten.
Die nichtpolitischen Swings änderten ihre Einstellung mit der Zeit, einige nahmen später Kontakt mit Gruppen wie der Weißen Rose auf. Die Mitglieder wurden vermehrt verfolgt, verhaftet und in Konzentrationslager überstellt, denn ihre Liebe zum Swing wurde als zersetzend angesehen. Diese Art Musik war mit Sicherheit das genaue Gegenteil von allem, was sich die damaligen Machthaber für die Jugend vorstellten.
Nach dem Krieg, als die Trümmer mühsam fortgeräumt wurden, brachten die Besatzer genau das wieder ins Land, das man so verzweifelt versucht hatte auszusperren: den Swing und später den Rock 'n' Roll. Die Jungen, die überlebten, hatten die Nase voll vom Gleichschritt – außer auf der Tanzfläche.
© "Der Swing der Jugend": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2011. Bildnachweis: Tanzen in der Diskothek (Illustration), CC0 (Public Domain Lizenz).
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