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So toll war es nicht in diesem Jahr, man brauchte die kurzärmeligen Sachen nicht so lange wie sonst. Alle haben über den Sommer, der keiner war, gemeckert – jetzt ist er vorbei und der Kalender besteht auf den Herbst. Auf der Straße sieht man noch Leute in Shirts und dreiviertelkurzen Hosen, aber neben den Unentwegten haben viele auch schon leichte Jacken oder Regensachen. Noch immer ist es morgens hell, aber das wird nicht mehr lange dauern.
Die Frühaufsteher haben schon dieses Wintergefühl beim Frühstück – also angeschaltetes Licht und dieses Frösteln, wenn man das warme Bett verlassen hat. Wahrscheinlich wird es noch sonnenschöne Tage geben, aber das Licht wird auf flammenfarbene Blätterteppiche fallen und nicht auf sattgrünes Gras – die Bäume fangen an, ihre Klamotten zu wechseln, ebenso wie wir.
Aber der Herbst ist auf seine Weise ein herrlicher Zweitsommer – einer, der zwar nicht mehr in schulterfreien Tops und dünnen Hemden zu genießen ist, aber dafür ruhiger. Keine extremen Temperaturen mehr, keine dieser Kopfschmerztage, wenn es lange drückend schwül ist. Der Regen macht nicht so viel aus, man erwartet ihn um diese Zeit eher und regt sich nicht mehr auf.
Wer spazieren geht, befindet sich in einer Art Zwischenreich, in dem es noch angenehm warm ist, wo aber die Augen schon zu den erleuchteten Fenstern wandern. Der Herbst ist eine Jahreszeit des Abschieds, aber auch des Versprechens. Die Schritte sind nicht mehr so lautlos auf dem weichen Erdboden, hier und da raschelt es schon, weil Blätter auf dem Weg liegen. Das Gras in den Städten verblasst unter der normalen Staubschicht noch mehr ... es geht auf die große Palette der Grautöne zu. Aber vorher wird es geradezu rauschig werden von gelb und rot und orange. In den Parks, den Anlagen und vor allem natürlich in den Wäldern könnte man Farbe tanken für den ganzen langen Winter, wäre das möglich für unsere Augen und unsere Seele.
Kinder sammeln die schönsten Blätter, um Collagen daraus zu machen oder um sie in Büchern zu pressen, Kastanien werden zu lustigen Figuren. Herbstrituale bleiben sich gleich – Kleider werden sortiert und weggeräumt, die wärmere Bettwäsche muss hervorgekramt werden. Herbstdekorationen tauchen an den Fenstern auf, bald werden Kürbisse auf den Eingangsstufen der Häuser oder in den Vorgärtchen stehen. Überall ist Orange die vorherrschende Farbe – die Stadt braucht etwas Nachhilfe, weil sie die rotgoldene Herbstsinfonie nicht ohne Noten spielen kann, so wie der Wald das tut. Wir müssen ein wenig helfen dabei.
Langsam werden die Eissalons die Straßenverkaufsfenster schließen und die Tische und Stühle immer seltener draußen aufbauen. Die Motorräder, deren satter Lärm zum Sommer gehört, werden bald abgemeldet und überholt werden, um dann den Winter zu verschlafen, ebenso wie die Fahrräder. Auf den Terrassen und in den Gärten werden die Gartenmöbel noch ein wenig herumstehen, leer wie die Bestuhlung nach einem Theaterstück. Dann bringt man auch sie dahin, wo sie ihren Winterschlaf beginnen können.
In den Läden werden schon Christstollen und Lebkuchen angeboten. Es ist, als sollte das Versprechen auf die Weihnachtszeit völlig übergangen und der Herbst ausgeblendet werden – er ist nicht so gewinnträchtig für die gewaltige Industrie, die sich auf gesteuerte und zeitlich festgenagelte Emotionen spezialisiert hat. Der Herbst hat allerdings weit mehr zu geben als nur einen Anlass, um die Dekorationen zu wechseln. Man muss es nur sehen können. Und das wiederum kann nur, wer in dieser Zeit mit offenen Augen unterwegs ist.
© Text und Foto zu "Der Herbst: Eine Jahreszeit des Abschieds": Winfried Brumma (Pressenet), 2012.
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