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Sprachliche Missgriffe gehören zum Medienerlebnis der Neuzeit und haben sogar so etwas wie einen eigenen "Oscar" oder zumindest "Bambi". Den traurigen Haupttreffer des Jahres 2011 landete der Begriff "Dönermorde", und das völlig zu Recht. Denn es wurden schließlich keine gefüllten Brottaschen ermordet, sondern Menschen. Die nur schlecht getarnte Menschenverachtung, die hinter diesem Wort steht, ist erschreckend. Aber es gibt weit unauffälligere Unworte – solche, die erst einmal gar nicht als solche erkannt werden.
So ist es in Mode gekommen, von der "Kinderarmut" hier in Deutschland zu sprechen. Das ist ein Wort, das einen großen "Hinhörfaktor" hat – denn Kinder liegen ja wohl jedem am Herzen. Oder sollten es zumindest. Trotzdem ist dieser gerne genutzte Begriff eher erklärungsbedürftig, denn er dürfte so nicht existieren. Dass Kinder arm sind, beinhaltet wohl in jedem Fall, dass sie arme Eltern haben. Es wird wohl kaum Familien geben, in denen die Erwachsenen wohlhabend, die Kinder aber bedürftig sind. Hier ist nur die Rede von materieller Armut, von nichts anderem, wohlgemerkt. Bis hierher ist alles soweit klar, es handelt sich also um arme Menschen jeden Alters.
Kinderarmut ist etwas, das es so nicht gibt – es gibt entweder Armut oder eben keine. Wieso also wurde dieses sonderbare "Unwort" aus der Taufe gehoben? Soll hier denjenigen, die sonst kaum Interesse an ihren Mitmenschen zeigen, doch noch so etwas wie eine Reaktion abgerungen werden? Geht es hier letztendlich um einen Kunstgriff einiger Politiker, die sich längst mit der Tatsache abgefunden hat, dass das "reiche" Deutschland nur so etwas wie ein überkommenes Schlagwort ist?
Ein reiches Land kann es durchaus geben – nur leider ist es, anders als bei den Familien, durchaus möglich, dass die Bewohner eher arm sind. Die meisten deutschen Normalbürger, also hier in dem Sinne gemeint, dass sie nur begrenzte Mittel zur Verfügung haben, müssen sich mit schleichender Verarmung auseinandersetzen. Wo Herr und Frau Meier noch vor einigen Jahren für eine Woche wegfahren konnten mit ihren Kindern, und sei es nur zum Zelten in den Schwarzwald, können sie das heute bei gleicher oder höherer Arbeitsleistung nicht mehr. Und ihre Kinder können es natürlich ebenso wenig. Spricht hier jemand von armen urlaubsbedürftigen Kindern? Eher nicht, könnte man denken. Es wäre auch Unsinn, denn die Lebensqualität hat eine Senkung für die ganze Familie Meier erfahren.
Wenn Kinder kein richtiges Mittagessen mehr bekommen, ist anzunehmen, dass die Eltern dies auch nicht haben. Nur ist das mittlerweile so sehr zum Alltag für viele Deutsche geworden, dass es niemanden mehr interessiert. Und deshalb wohl dieses Wort: "Kinderarmut". Da greift vielleicht noch etwas ... und vielleicht kommt man hier und da auf den Gedanken, mit Spendengeldern eine Art Essen auf Rädern einzusetzen. Für die Kinder, wohlgemerkt – die restliche Familie hat sich ja wohl an Verzicht gewöhnt. Oder vielleicht eine Tafel nur für Kinder – natürlich muss das Gespendete gleich an Ort und Stelle verzehrt werden ... es geht ja um arme Kinder und nicht um arme Erwachsene.
Je länger man darüber nachdenkt, umso absurder wird dieses Wortkonstrukt und je misstrauischer wird man der dahinterstehenden Absicht gegenüber. Wahrscheinlich sieht die Realität so aus, dass die Eltern eher selber verzichten, um ihren Kindern ein wenig Lebensqualität zu ermöglichen. Fallen Kinder nun auf durch ärmliche Kleidung und hageres Aussehen, kann man hochrechnen, wie es den Eltern geht. Hier, in einem Land, das immer wieder verlangt, dass Familien gegründet – sprich: Kinder in die Welt gesetzt werden. Es sollte einen Sonderpreis für die zynischste Wortschöpfung geben – man hätte hier den allerersten Anwärter.
© "Wortklaubereien: Kinderarmut in Deutschland": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2012. Bildnachweis: Kinder beim Wettkampf, CC0 (Public Domain Lizenz).
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