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"Macht die Städte und Gemeinden grün" – ein schöner Satz ist das. Man denkt an Bäume und Parks, Blumen überall und begrünte Flächen zwischen den Häusern. Aber das Grün, das sich in den Straßen ausbreitet, hat damit nichts zu tun, es ist das Grün der Gleichgültigkeit. Löwenzahn wächst da, wo er vorher niemals Fuß gefasst hätte. Gräser brechen sich Bahn, bröckeln den Asphalt und erobern Spalten und Rinnen. Es wäre schön, wenn es vielleicht um einen kollektiven Beschluss ginge, das Wachstum zuzulassen und hundertfach geflickte Teerdecken bedeckt zu sehen. Aber so eine Verordnung gibt es nicht, es gibt nur Veränderung.
Deutsche Bürger, die Ziergräser hegen in Vorgärten, Hecken in geometrische Formen zwingen und hochgezüchtete Blüten pflegen ... sie haben es aufgegeben, sich über das ungeordnete Grün zu wundern, weil es die Farbe der Hoffnungslosigkeit geworden ist. Menschen fehlen, die sich darum kümmern könnten – die modernen Sklaven arbeiten anderswo. Die kleinen Kämpfer, die ihre Köpfe durch den Straßenbelag bohren oder sich in Mauerritzen festklammern, sie sind die Verkünder der Armut, denn wo es noch die Illusion der Gutbürgerlichkeit gibt in den Straßen, da haben sie keine Chance. Unkraut wird es sein, dass das Bild der nächsten Jahre bestimmt – es wird die schrumpfenden Städte mit einem staubgrünen Schleier überziehen.
Schnell einen Brief einwerfen vor dem Wochenende, an jeder Ecke gibt es Briefkästen ... oder: es gab sie. Im Zeitalter der elektronischen Post werden die Gänge zu den gelben Kästen mit der Klappe seltener, aber hier und da kommt es doch noch vor. Dort, wo immer solch ein Briefkasten stand oder an einer Hauswand angebracht war, ist nichts mehr. Sie wurden wegrationalisiert, eingespart, kalkulierte Unnötigkeit hat sie selten gemacht. Personalmangel wird es nicht sein, denn in der jetzigen Zeit kann sich keine Firma oder Institution über mangelnde Bewerbungen beklagen ... es geht um Aufwand, der mit Arbeitszeit und Geld verrechnet wird.
Weniger, immer weniger Leute, die bezahlt werden müssen – dies ist das Nirwana der modernen Arbeitgeber. Die Vorhölle der Beschäftigten ist das Ersetzen von zwei bis drei Kräften, ein Kampf, der nicht gewonnen werden kann. Immer mehr, für immer weniger ... man wird zu diesem Rennen gezwungen wie ein Arbeitspferd im Geschirr, man lässt sich darauf ein, um dann doch an der Ersetzbarkeit zu scheitern. Es gibt nichts, das nicht wegrationalisiert werden könnte.
Läden, die keine mehr sind. Ladenlokale und deren Schaufenster, die für lange Zeit Eckpunkte der Wahrnehmung waren, sind plötzlich verändert. Ein anderer Pächter hat seine Waren ausgebreitet, wo es Schuhe gab, liegen jetzt Elektronikteile in der Auslage. Dann sind es Bücher, dann Kinderkleider aus zweiter Hand. Die Spannen werden kürzer, bis der Laden schließlich leer bleibt. "Zu vermieten" steht auf den Plakaten, die von innen an das Glas geklebt sind und die sehr lange hängen werden. So lange, bis die Sonne sie ausgebleicht hat – die Scheiben werden vom Straßenverkehr bräunlich werden. Kaum jemand hat das Geld oder den Mut, sich auf ein Geschäft mit Ladentheke einzulassen – und kaum jemand hat noch Geld, um irgendetwas zu kaufen, das teurer sein muss als im Selbstbedienungsmarkt oder im Internet. Läden, in denen alles einen Euro kostet, tauchen auf, verschwinden wieder. Restpostenmärkte öffnen, können sich erstaunlicherweise halten, verschwinden aber ebenso wie die kleinen Second-Hand-Shops oder Boutiquen.
Nagelstudios waren auf einmal überall da, wo die Augen über Häuserzeilen glitten, sie machten sich dort breit, wo vorher irgendein kleines Geschäft gewesen war. Diese speziellen Dienstleistungslädchen waren auf ihre Weise ebenso ein Zeichen des Verfalls. Kurze Lernphase, einigermaßen günstiges Equipment – viele machten so etwas auf, weil sie keine andere Möglichkeit mehr sahen für sich. Und in manchen Straßen gab es drei davon ... auch sie sind verschwunden. Es ist wie ein äußeres Symptom einer schleichenden Krankheit. Die Hautirritationen tauchen gehäuft auf, dann verschwinden sie wieder. Was wie eine Phase aussieht und vielleicht aufatmen lässt, ist ein Zeichen, dass unter der Oberfläche etwas wirklich Schlimmes lauert. Hier ist es die Verzweiflung und die Angst vor Armut. Kaum noch Nagelstudios in der Innenstadt und in den Randbezirken – sie sind fast völlig verschwunden. Bei den zweien oder dreien, die man sieht, wenn man die Runde mit dem Hund macht oder weil sie auf dem Weg zum Kindergarten liegen, hat man das Gefühl, dass nur vergessen wurde, das Schild wegzunehmen: sie sind für immer geschlossen.
Viele Spielplätze sind zu einem Paradoxon geworden, denn hier sollten Kinder spielen, rennen, lachen, kreischen. Mütter und Väter sollten sich hier treffen und in der Sonne sitzen, immer ein Auge auf dem Nachwuchs. Wo es noch so etwas gibt, sitzen junge Leute auf den niederen Holzbohlen – so, als hätten ihre Eltern sie vor Jahren hier vergessen und dem Wachsen überlassen. In den Sandkästen halten sich die Hundehäufchen mit den Scherben von mutwillig zerschmetterten Flaschen in etwa die Waage – niemand kümmert sich darum. Die Plätze wären auch nicht sicher, denn niemand wartet die Geräte. Oft stehen sie sogar den Winter über. Man hat aufgegeben. Überall gibt es dieses Aufgeben, dieses unablässige Schulterzucken, das "ist halt so"-Zucken.
Fenster, hinter denen Menschen leben, sehen aus, als ob die Bewohner fort sind oder schlafen – es ist Sommer und kleine Weihnachtsmänner kleben auf den Scheiben. Wozu sie entfernen, das Jahr ist so schnell vorbei und dann passt es wieder ... und wer sieht aus dem Fenster einer Erdgeschosswohnung in einem Wohnblock einer Sozialwohnungsgesellschaft. Jemand hatte Hoffnung und hat die Bildchen auf die Scheibe geklebt. Dann hat man sie vergessen ... weil es nicht mehr wichtig ist – Weihnachten oder Ostern, Frühling oder Herbst. Das Jahr teilt sich anders ein mittlerweile, es hinterlässt auch keine Erinnerungen mehr ... nur Müdigkeit.
© Textbeitrag und Fotos zu den Beobachtungen "Städte im Hartz – Leere Spielplätze und Geschäfte": Winfried Brumma (Pressenet), 2012.
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