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Wer an Tagebücher denkt, sieht vielleicht vor seinem geistigen Auge ein hübsches kleines Büchlein in schönem Einband – Leder vielleicht oder auch Leinen, meist mit einem kleinen Schloss versehen. Das war das Schöne an diesen Tagebüchern in der Kindheit – man konnte sie abschließen mit einem kleinen Schlüssel. Den trug man dann um den Hals oder versteckte ihn sonst irgendwo. Es war etwas GEHEIMES, und Geheimnisse üben eine sehr große Anziehungskraft auf Kinder aus. Was immer hineingeschrieben wurde in dieses Buch, es war mit Sicherheit wichtig genug, um festgehalten zu werden. Streit mit den Eltern oder den besten Freunden, die erste Verliebtheit oder die sonstigen wichtigen Dinge.
Auch Erwachsene führen Tagebuch, und dazu kann nur geraten werden. Wer seine Gedanken niederschreibt, wird ihnen immer dann wiederbegegnen, wenn er das Geschriebene wieder liest. Er begegnet sich, in gewissem Sinne, selber. Und es wird eine Art Gespräch möglich – nicht im Sinne von Rede und Gegenrede, aber doch eine Art Austausch mit dem eigenen Ich. Therapeuten raten mitunter zum Tagebuchschreiben – wahrscheinlich, weil es die Dinge klarer erscheinen lassen kann und die Sicht von einem anderen Punkt aus erlaubt.
Viele Tagebücher erlangten Berühmtheit – so wie das der Anne Frank. Es erlaubt einen beklemmenden Blick auf eine sehr dunkle Zeit und die Gedanken eines begabten Kindes, das keine Chance auf ein Erwachsenenleben hatte. Viele Tagebücher berühmter Menschen wurden posthum veröffentlicht und spiegeln nicht nur die Gedanken der betreffenden Person wider, sondern bringen auch den Zeitgeist der jeweiligen Epoche nahe. Sicher zeigen diese Berichte vor allem die persönliche Sicht des Schreibers, aber das macht sie auch so interessant. Man lernt den Menschen durch seine aufgeschriebenen Gedanken auf eine intensive Weise kennen – es macht ihn praktisch lebendig.
Tagebücher sind auch sonst sehr nützlich – es gibt viele Kriminalgeschichten, die sich um sie drehen – sie weisen den Weg zum Täter oder aber sie liefern das Motiv. Abenteuerliche Romane basieren oft auf den Tagebüchern eines längst verstorbenen Helden oder einer Heldin und sind der Beginn der spannendsten Ereignisse. Manche Bücher sind in der Form eines fiktiven Tagebuches gehalten, was ihnen, ähnlich wie einem Briefroman, eine sehr intensive Sicht auf die Figuren erlaubt. Die subjektive Erzählweise wird auf diese Weise zu einer besonders intimen – der Leser ist eine Art Eingeweihter, nicht nur Beobachter.
Das Aufschreiben der Gedanken, Gefühle oder Taten hat eine sehr lange Tradition und reicht bis in die Antike zurück. Der Drang, Dinge aufzuschreiben, ist so alt wie die Schrift selbst. In der heutigen Zeit sind vielleicht diese handgeschriebenen Tagebücher selten geworden, aber es gibt moderaten Ersatz. Das Internet bietet viele Möglichkeiten, um virtuell ein Tagebuch zu führen – das kann privat bleiben oder auch öffentlich gemacht werden, und dieses Schreiben eröffnet zudem für viele Menschen ganz neue Möglichkeiten des Austauschs.
Das "Bloggen" ist zum Beispiel zur Selbstverständlichkeit geworden. Man kann dokumentieren, Gedanken oder Geschichten teilen und die Inhalte zur Diskussion stellen. Interaktive Tagebücher, die man kommentieren kann ... es ist eine neue Art der Auseinandersetzung mit dem eigenen Erleben und der Sicht der Dinge. Eine Art Logbuch, das von tausenden Menschen aufgerufen werden kann. Sicherlich ist das eine zweischneidige Angelegenheit, aber positiv ist auf jeden Fall, dass Menschen den Austausch suchen.
© "Das Tagebuch: Austausch mit dem eigenen Ich": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2012. Die Abbildung zeigt ein Detail aus einer Handschrift des 14. Jahrhunderts, Lizenz: gemeinfrei.
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