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Könnten Sie einen ganzen Tag ohne eine einzige geäußerte Unwahrheit auskommen? Kein Problem, denken Sie? Also gut, versuchen wir das einmal. Der Wecker klingelt, die Beine werden aus dem Bett geschwungen und das Experiment geht in die Startphase.
Sie nennen das stoppelige oder zerknitterte Wesen, das neben Ihnen im Bett liegt, "Liebling"? Gut, zwar haben Sie kurz nach dem Aufwachen nicht wirklich Ahnung, um wen es sich handelt und erkennen den langjährigen Ehepartner erst nach der ersten Tasse Kaffee – aber lassen wir das als frühmorgendliche Verwirrtheit durchgehen und vergeben keinen Punkt. Den würden Sie nämlich bekommen, handelte es sich um eine Lüge. Sollten Sie wirklich nicht wissen, wer da selig auf dem Kissen liegt, es sich also um eine Trophäe der gestrigen Party handelt, wird es wahrscheinlich eng für Sie. Dass das Überspielen der peinlichen Tatsache, dass Ihnen der Name des Flirterfolges nicht einfällt, nicht als Lüge gelten kann, lassen wir eben so durchgehen. Aber wirklich gerade noch.
Der wachsweiche Blick, den man Ihnen dann schenkt, und die Frage, ob es Kaffee gibt, stellt die nächste Herausforderung dar. Tut uns leid – jetzt wird der erste Punkt vergeben. Warum zum Teufel sagen Sie nicht frei heraus, dass Sie sich nicht an die Nacht erinnern können und den Tag alleine anfangen möchten? Und dass Sie es hassen, mit wildfremden Leuten zu frühstücken? Dass Sie einen dringenden Arzttermin haben, glaubt sowieso keiner. Nicht um sieben Uhr morgens. Tatsächlich sind die Parkplätze ziemlich rar in der Innenstadt und Busse haben manchmal, wenn auch nicht allzu oft, Verspätung. Trotzdem könnte man auf diese kleine Unwahrheit verzichten – vielleicht entschuldigt man sich einfach beim Abteilungsleiter oder Kolonnenführer. Die Ausrede interessiert nämlich nicht wirklich. Wieder ein Punkt – und der Tag hat erst angefangen.
Auch wenn der Chef da komisch reagiert: Wieso geben Sie nicht zu, dass Sie den Kopierer mittels Papierstau lahmgelegt haben? Sind wir nicht alle Menschen? Und wieso, denken Sie, glaubt die Kollegin die Geschichte mit dem Arzttermin? Wieso sagen Sie ihr nicht einfach, dass Sie keine Lust auf "ein Käffchen bei mir" haben, weil Sie die Litanei über die Aufzucht und Pflege der süßen Kinderlein nicht mehr hören können? Und bei der Gelegenheit wäre auch ein offenes Wort über die fürchterlich nervigen Kleinen angebracht. Wenn der Jüngste mal wieder mit den Marmeladenfingern die frisch gewaschene Jeans einsaut, sollte vielleicht Tacheles geredet werden und nicht: "Ach lass, ist nicht schlimm, er ist ja noch ein Kind." (... und daheim Amok laufen, weil schon wieder gewaschen werden muss). Also, das waren wieder zwei Punkte, tut uns wirklich leid.
Natürlich ist es heutzutage sehr viel schwieriger, den Mitmenschen eine Lüge aufzutischen (außer, man ist Politiker). Die moderne Technik legt da viele Fußangeln. Wo man früher sagen konnte, dass man das Klingeln des Telefons nicht gehört hat, weil man eben mal im Keller oder auf dem Dachboden war, muss man heute erklären, wieso das Handy gerade bei dem nervigen Kumpel nie funktioniert. Auf den Akku schieben geht auch nicht immer. Wieso kann man nicht sagen, dass man keine Lust auf ein Gespräch hatte? Die Entgegnung, dass man das ja hätte sagen können, ist leicht zu entkräften – denn das wäre ja auch ein Gespräch gewesen.
Sie wollen niemanden verletzen, sagen Sie? Also, dafür gibt es sogar zwei Punkte. Denn schließlich ist es nicht gerade ehrlich, innerlich die Augen zu verdrehen, wenn das Gegenüber glaubt, ein offenes Ohr gefunden zu haben. So verschwenden Sie nicht nur Ihre Zeit, sondern auch des anderen – der könnte in der Zeit ja tatsächlich jemanden finden, den sein Gesülze interessiert. Also tun Sie sich und anderen einen Gefallen und sagen Sie die Wahrheit.
Die neue Frisur des Kollegen ist mehr als gewöhnungsbedürftig? Auch wenn die treuen Hundeaugen um eine Lüge betteln – sagen Sie nicht, dass es toll aussieht. Erstens gäbe das einen Punkt, und zweitens könnte man ja einen guten Stylisten empfehlen. Denken Sie daran, nicht alle Leute wollen das Verletzen vermeiden und sagen ihre wirkliche Meinung zum neuen Style des Buchhalters. Und wahrscheinlich haben Sie dann den Ruf des Schleimers weg. Das bedeutet unterm Strich, man glaubt Ihnen überhaupt nichts mehr und nimmt grundsätzlich das Gegenteil von dem an, das Sie sagen.
Nach Feierabend ist die Gefahr allerdings noch nicht gebannt – denn wieso sagen Sie der guten Frau Soundso aus dem Erdgeschoss nicht, dass ihr Hund das Bein am Blumenkübel gehoben hat, wenn sie danach fragt? Sie wird ihn wohl kaum standrechtlich erschießen. Geben Sie es zu, entschuldigen Sie sich und umgehen Sie das Teil beim nächsten Gassi. Eine Schachtel Pralinen für die Gute wären auch nicht verkehrt. Ganz übel ist es nämlich, das auf die anderen Hunde der Straße schieben zu wollen. Man will doch keinen Krieg anzetteln.
Da mit den Familienmitgliedern meist nicht viel gesprochen wird, könnte der Gedanke aufkommen, die Klippen endgültig umschifft zu haben. Aber das täuscht. Warten Sie ab, bis Sie vor dem Fernseher sitzen. Sich selbst belügen ist ebenso für Punkte gut. Kartoffelchips schaden der Figur nicht, wenn man nur einige wenige isst? Für das Verstecken der leer gefutterten Tüte unter dem Sofakissen kassieren Sie einen Punkt. Dass der Hund Sie so traurig ansieht und außerdem EIN Stück Schokolade nicht schadet, das erklären Sie dem Tierarzt und heimsen wiederum Pünktchen ein. Über das Versprechen, beim Film des Abends nicht einzuschlafen, sehen wir großzügig hinweg – Sie sind ja rechtschaffen müde vom Kampf mit der Wahrheit. Alles in Allem haben Sie sich bemüht, wenn Sie auch verloren haben: nach Punkten.
© "Wahrheitsliebe im Test": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2012. Illustration: Thomas Alwin Müller, littleART.
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