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Wir schreiben das Jahr 1970. In der Kleinstadt geht alles seinen geregelten Gang. Alle haben Arbeit, sind in der Ausbildung oder beziehen Rente. Jeder kann sich etwas leisten, ob er nun auf dem Bau arbeitet oder in irgendeinem Büro.
Es gibt hier und da verkrachte Existenzen, Alkoholiker meist, die ohne festen Wohnsitz sind und die ihre bevorzugten Plätze haben, an denen sie sich aufhalten. Einer davon, ein zum Park mutierter stillgelegter kleiner Friedhof mitten in der Stadt, wird eines Tages von einem Mitarbeiter der Stadtverwaltung aufgesucht. Er überredet die wenigen "Penner", wie die Obdachlosen genannt werden, sich doch auf dem Amt für Soziales zu melden, da ihnen Geld zustehe. Die Männer hören das mit Erstaunen, aber ob sie der Einladung folgen, ist ungewiss.
In jedem Viertel gibt es einige Familien, die auffallen, weil sie entweder mehr Kinder haben als üblich, oder weil sie sich nicht mit der neuen deutschen Ordnung anfreunden können. Das Wort "asozial" hat noch nicht den Weg in die Umgangssprache gefunden, man nennt solche Menschen "Pack" oder belegt sie mit anderen abwertenden Namen. Wie überall gibt es auch hier einen berüchtigten Straßenzug – einen, der für Normalbürger so etwas wie einen fremden Planeten bedeutet. Aber auch hier fliegen die Flaschen meist nach der Schicht – Arbeit haben die meisten. Wer keinen Job hat in dieser Zeit, ist oft selber schuld – denn man findet überall einen. Ob Akademiker oder kaum die neunte Klasse geschafft – jeder kann arbeiten, wenn er will.
Mit ungefähr drei bis vier Bewerbungen hat sich die Ausbildungsfrage erledigt – das gilt für Frisöre ebenso wie für Mechaniker oder Verkäufer. Selbst die meisten langhaarigen Jugendlichen stopfen sich ihre Mähnen unter ein Netz, wenn sie eine Bäckerlehre machen oder sonst eine Ausbildung absolvieren und kiffen erst nach Feierabend, oder wenn sie für das Abitur gelernt haben.
Aus diesen argwöhnisch betrachteten "Revoluzzern" wurden die späteren Lokalpolitiker und Beamten, die Selbstständigen und Akademiker, die in den letzten Jahren des Jahrhunderts an der Politik verzweifeln sollten – sofern sie sich nicht, wie in den allermeisten Fällen, arrangiert hatten.
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Wir schreiben das Jahr 2012. Die Jugendlichen schreiben Bewerbungen im Akkord, wenn sie so etwas wie Hoffnung haben. Haben sie die nicht, zucken sie die Schultern und tun entweder gar nichts oder Dinge, die für niemanden gut sind. Die Rentner schimpfen auf die Hartz-IV-Empfänger, weil irgendjemand die Legende vom Überfluss für diese Faulenzer kreiert hat. Diejenigen, die noch Arbeit haben, beten die gleiche Litanei herunter, Tag für Tag. Die Arbeitslosenzahlen sind mit so simplen Tricks geschönt, dass jeder sofort erkennt, was tatsächlich los ist.
Sichere Arbeitsplätze gibt es kaum noch, schon gar nicht für Leute, die keine höhere Bildung haben oder eine angeschlagene Gesundheit. Um die Illusion von "Beschäftigung" aufrecht zu erhalten, investiert der Staat zunehmend in die Armut. Billiglöhne treiben viele in den Bezug, was die Firmen nicht belastet, wohl aber den Staat. Dem fällt dazu nichts weiter ein, als den Hass der Wenigverdiener auf die Garnichtsverdiener zu schüren, damit er nicht erklären muss, was zum Teufel er da eigentlich macht.
Wer krank wird, verliert meist die Arbeit – und krank werden ist programmiert, da alle Firmen einsparen, wo sie können und jeder sehr viel mehr arbeitet, als er eigentlich sollte. So werden Leiharbeiter verschlissen, die dann in den Bezug abrutschen, was niemanden stört, denn der Nachschub ist garantiert.
Lohnstreifen und Hartz-IV-Bescheid ist das tägliche Brot für viele – in absehbarer Zeit wird es für die meisten Arbeitnehmer so sein. Das marode Bildungssystem spuckt wie am Fließband junge Menschen aus, die keine Chance auf gehobene Jobs haben – ungeachtet ihrer Intelligenz. Private Arbeitsvermittler und Zeitarbeitsfirmen schießen wie die sprichwörtlichen Pilze aus dem Boden – ein reines Pyramidengeschäft, geduldet vom Gesetzgeber.
Man fragt sich, würden die keifenden Konservativen von damals, die sportmäßig die "Gammler und Hippies" beschimpften, das alles mit ansehen können ... ob sie dann nicht doch lieber freundlich gewinkt hätten.
© "Rückblende: Arbeit in Deutschland": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2012. Illustration: Thomas Alwin Müller, littleART.
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