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Diese vierundzwanzig Stunden, die jeder Mensch täglich zur Verfügung hat, sind grob in drei Blöcke geteilt. Also etwa acht Stunden Arbeit, acht Stunden Freizeit und vor allem acht Stunden Schlaf. Und gerade der Acht-Stunden-Schlaf ist zu so etwas wie einer Institution geworden. Diese acht Stunden sind das Allermindeste ... so glauben wir. "Ich kann keine Nacht durchschlafen", das ist eine immer wieder vorgebrachte Klage, und es gibt unzählige Bücher mit Ratschlägen, wie man es schafft, durchzuschlafen.
Aber warum müssen diese acht Stunden an einem Stück absolviert werden, damit sie überhaupt einen Wert haben sollen? Ist das tatsächlich so wichtig, wie wir alle glauben?
Es gibt viele Ansichten über die Länge des Schlafes – mittlerweile hat sich allerdings die Allgemeinheit dazu durchgerungen, das ganze etwas lockerer zu sehen, denn wo der eine nach acht Stunden noch schlaftrunken an den Frühstückstisch taumelt, ist der andere nach eben mal der Hälfte topfit und zu allem bereit. Alte Menschen, so denken wir, brauchen sehr viel weniger Schlaf als junge – und von Babys wird erwartet, dass sie kaum etwas anderes tun, als selig zu schlummern.
Die Praxis kennt da bei genauerem Hinsehen scheinbar mehr Ausnahme- als Regelfälle. Völlig übermüdete Eltern, deren Babys kaum zum Schlafen zu bewegen sind, stellen keine Ausnahme dar – und Senioren, die sich darüber beklagen, dass sie bei guter Gesundheit dennoch oft müde sind und lange schlafen, gibt es auch nicht selten. Jeder von uns hat schon so etwas von Freunden oder Bekannten gehört, tut es aber meist als Ausnahme ab (auch die eigenen Schwierigkeiten beim Durchschlafen). Wer nach einer Schlafphase aufwacht und sich dann mit einem Tee vor den Fernseher setzt, ein Buch liest oder mitternächtliche Telefonate mit Leidensgenossen führt, unter Umständen dem Hund ein zusätzliches Gassi gönnt ... der fühlt sich krank. "Da stimmt doch etwas nicht", denkt er. Aber ist das wirklich so?
Es gibt mehrere Fachleute, die an dem Acht-Stunden-Mythos sägen. So hat der amerikanische Historiker Roger Ekirch in seinem Buch "In der Stunde der Nacht" ein völlig neues Bild gezeichnet, denn nach seinen Erkenntnissen, die er mit historischen Hinweisen stützt, sind die durchgeschlafenen Nächte eine "neuere Erfindung" und werden erst seit Beginn des letzten Jahrhunderts praktiziert. Im Mittelalter jedoch, so Ekirch, pflegte man nach des Tages harter Arbeit zunächst einmal zu Bett zu gehen und wohl auch prompt einzuschlafen.
Zwei bis vier Stunden dauerte dieser erste Erholungsschlaf, dann wachte man meist auf und tat, was getan werden musste: den Nachttopf benutzen zum Beispiel, oder einen ausgedehnten Mitternachts-Imbiss zu sich nehmen. Sex war eine gute Alternative, wenn man erst einmal ausgeruht war. Manche beteten auch, rauchten, lasen oder schrieben. Sogar das Besuchen von Nachbarn soll nicht allzu außergewöhnlich gewesen sein – bis man sich dann wieder in das Land der Träume begab bis zum Morgen. Heutzutage tun viele Menschen ähnliche Dinge, wenn sie nach drei oder vier Stunden Schlaf wieder aufwachen – nur fühlen sie sich nicht gut dabei.
Wenn man nun dem Historiker Ekirch glaubt, wäre dieser segmentierte Schlaf eine ganz natürliche Sache und würde den Menschen erlauben, völlig ungestört von allzu lauten Geräuschen oder anderen Dingen etwas für sich selber zu tun. So manche Eltern könnten dann in Ruhe einen Film ansehen, lesen oder sonst irgendetwas machen, das tagsüber einfach nicht geht. Wenn man so oder so wieder eine oder zwei Stunden wach ist, kann man diese Zeit besser nutzen, als sich Sorgen zu machen – schließlich muss man durchaus nicht müder aufstehen deswegen, vielleicht ganz im Gegenteil.
So mancher kennt das Gefühl, nach einer sehr ausgedehnten Schlaforgie am Stück immer noch müde zu sein, beziehungsweise den ganzen Tag nicht so recht in die Gänge kommen zu können. Das ist nämlich auch eine alte Volksweisheit: viel schlafen macht müde. Zeit ist etwas Kostbares in unserer heutigen, gänzlich verplanten Zeit. Wenn nun der natürliche und persönliche Schlafrhythmus sich wieder durchsetzen kann, ist das wahrscheinlich der Gesundheit und dem Wohlbefinden mehr zuträglicher.
Weniger gut ist es für diejenigen, an denen durch sorgfältig kreierte Schlafstörungen gut verdient wird – daran hängt nämlich eine ganze Industrie. Wenn nämlich alle Menschen, die an "Durchschlafstörungen" leiden, die gewonnene Zeit für sich nutzen, oder wenigstens nicht mehr glauben, sie hätten ein Problem, wären viele Mittel oder therapeutische Maßnahmen völlig überflüssig. Die betroffenen Menschen fühlen sich weniger leistungsfähig und allgemein beeinträchtigt – vielleicht nur, weil der durchgehende Nachtschlaf als das höchste Ideal gilt?
Hören wir in dem Falle doch auf unseren Körper ... ist er tatsächlich weniger leistungsfähig? Es käme auf den Versuch an, man müsste sich nur frei machen von fest verankerten Vorstellungen, was das "Normale" betrifft. Im Übrigen werden von der Psychologie viele unserer Verhaltensweisen auf die Frühzeit unserer Spezies zurückgeführt, was manchmal ziemlich sonderbare Blüten treibt. Bleibt man da aber konsequent, muss man sich fragen, ob sich unsere Vorfahren in einer als übermächtig und eher feindlich erlebten Umwelt einen durchgehenden Nachtschlaf überhaupt erlauben konnten ... wohl eher nicht, könnte man annehmen.
© Textbeitrag "Der Acht-Stunden-Schlaf – ein Mythos der Moderne?": Winfried Brumma (Pressenet), 2012. Bildnachweis: Frosch im Bett, CC0 (Public Domain Lizenz).
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