|
Eigentlich tut es (fast) jeder – aber wo es herkommt, ist nicht genau belegt: das Stricken. Wer zum ersten Mal mittels zweier Stäbchen oder Nadeln ein Stück Gewebe hergestellt hat, wird wohl ewig im Dunkel der Geschichte verborgen bleiben. Allerdings vermuten Historiker den Anfang dieses beliebten Hobbys irgendwo in Asien. Obwohl, das Wort Hobby trifft es nicht ganz, denn in früheren Zeiten war dieses Handwerk bittere Notwendigkeit und wurde überall und ständig ausgeübt. Es ging da nicht um Babyschühchen, sondern um bitter notwendige Kleidung.
Stricken ist vergleichsweise einfach, vergleicht man es mit dem Weben. Vor allem deshalb, weil dieser kleine "Handwebstuhl" so gut wie keinen Platz braucht. Zwei bis vier Nadeln und Wolle – oder anderes Garn – reichen, um fast jedes Kleidungsstück herzustellen, vom Strumpf bis zum Pullover. Die Zeitintensität variiert mit dem Material – feine Strümpfe aus Seidengarn brauchen sehr viel länger als ein zünftiger Norwegerpullover. Stricken war nicht immer und überall Frauensache – die berühmten irischen Fischerpullover wurden lange ausschließlich von Männern gefertigt. Sie benutzten dafür Wolle, die kaum gereinigt, also nicht entfettet wurde und somit einen gewissen Schutz vor Nässe bot. Die Familien besaßen eigene Muster, an denen man die Zugehörigkeit erkennen konnte – bei einer Heirat wurden diese Familienmuster dann kombiniert, um ein neues zu schaffen.
In den Nachkriegsjahren wurde gestrickt, was das Zeug hielt, sofern man das Material dazu hatte. Oft wurden alte Stricksachen aufgedröselt, um daraus etwas Neues zu machen, das gerade gebraucht wurde. Mit dem Aufschwung geriet diese Handarbeit allerdings sehr in Vergessenheit, außer vielleicht bei wohlmeinenden Großmüttern oder in den leidvollen Handarbeitsstunden der Schule. Da die Läden wieder voll waren und jeder sich etwas leisten konnte, kam bald niemand mehr auf den Gedanken, die Socken selber zu stricken. Überhaupt haftete dem Nadelgeklapper etwas Altbackenes an, und viele Kinder wurden von ihren Eltern nur unter Androhung schlimmer Strafen dazu gebracht, Tante Klaras Strickpullover wenigstens so lange zu tragen, wie die Gute zu Besuch war. Das Zeug kratzte auf der Haut und war modisch gesehen völlig unmöglich.
Aber dann kam eine Renaissance in den achtziger Jahren – Stricken war auf einmal wieder gesellschaftsfähig. Junge Frauen und zunehmend auch Männer trugen plötzlich ihr Strickzeug überall mit sich herum – in den Hörsälen der Universitäten, bei Freunden und manchmal sogar im Kino. Naturgefärbte Schafswolle war auf einmal das Material, aus dem die naturverbundene Weltanschauung gestrickt war. Kunstfasergarne waren streng verpönt – und manche Unerschrockenen lernten sogar, wie man Wolle färbt, reinigt und verspinnt. Neben dem Endziel des neuen Kleidungsstücks gab es eine Nebenwirkung: Stricken beruhigt ganz ungemein. Es ist erstaunlich, wie man sich in dieser Beschäftigung verlieren kann – und produziert dabei etwas Brauchbares.
Sehr einfach gearbeitete Pullover über gebatikten Röcken bestimmten das Straßenbild neben kunstvoll gemusterten Strickjacken. Schals und Fäustlinge waren Ehrensache und etwas, das auch völlig Ungeübte schnell hinkriegten. Viele wirklich Interessierte befassten sich mit fast völlig in Vergessenheit geratenen Fertigkeiten wie das Kunststricken, mit dem man sehr schöne Sachen herstellen kann, die wie Spitze aussehen. Strümpfe mit doppelter Ferse fanden sich in allen bunten über der Schulter getragenen Beuteln, die das Stadtbild bereicherten, und zwar in allen möglichen Stadien der Entstehung.
Dieser Boom flachte mit der Zeit wieder ab – was aber blieb, war eine neue Art, diese Beschäftigung zu sehen – das altbackene Etikett war völlig verschwunden und viele Handarbeitsläden kamen um die Schließung herum. Ganz wird diese Kunst wohl nie verschwinden, und das ist auch gut so – denn tatsächlich handelt es sich um den zweitkleinsten transportablen Webstuhl der Welt – den ersten Platz hält nämlich die Häkelnadel. Und die wurde übrigens auch wieder sehr beliebt, denn Häkeln geht sehr schnell und man kann damit ganz unglaublich schöne Sachen machen. Zum Beispiel Scheibengardinen mit ganzen Bildern darauf. Aber das ist wieder ein anderes Thema.
© "Der kleinste Webstuhl der Welt": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2012. Die Abbildung zeigt das Gemälde "Strickendes Mädchen" des eidgenössischen Malers Albert Anker, 1884, Lizenz: gemeinfrei.
Archive:
Jahrgänge:
2022 |
2021 |
2020 |
2019 |
2018 |
2017 |
2016 |
2015 |
2014 |
2013 |
2012 |
2011 |
2010 |
2009
Themen:
Rezensionen |
Krimi Thriller |
Ratgeber |
Sagen Legenden |
Fantasy Mythologie
Noch mehr Bücher lesen (Werbung):
Fantasy & Science Fiction
| Krimis & Thriller
| Ratgeber
| Reise & Abenteuer
Sie schreiben anspruchsvolle Romane und Erzählungen? Wir suchen neue Autorinnen und Autoren. Melden Sie sich!
Wenn Sie die Informationen auf diesen Seiten interessant fanden, freuen wir uns über einen Förderbeitrag. Empfehlen Sie uns auch gerne in Ihren Netzwerken. Herzlichen Dank!
Sitemap Impressum Datenschutz RSS Feed