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Gerade eben in die Pubertät gekommen und dann bricht alles zusammen – es ist Krieg. Die Väter und Brüder ziehen los, um entweder umgebracht zu werden oder andere Leute umzubringen. Manche kommen wieder nach Hause, mit etwas Glück ohne fehlende Gliedmaßen. Von Trauma spricht keiner, denn um 1914 herum weiß man zwar, was das ist, benennt das aber nicht so. Die Symptome kennen alle, die Ehemann, Sohn oder Bruder kaum mehr wiedererkennen nach dem Fronteinsatz.
In Deutschland geht der Hunger um, und die Kinder und Jugendlichen leben unter ziemlich erschwerten Bedingungen. Alles wird nur langsam, wenn überhaupt, besser. Aber das Leben geht weiter, man hat nun mal kein anderes. Diejenigen, die beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges Kinder waren, sind noch nicht ganz zwanzig oder darüber, als ein weiterer Krieg in Vorbereitung geht. Zwar hat es Arbeit gegeben für jeden, aber dieser kurze Aufschwung ist die Rampe für einen gewaltigen militärischen Rundschlag, jedenfalls was Deutschland betrifft. Die Schatten des Zweiten Weltkrieges verdunkeln wieder das Leben dieser jungen Leute – nur, dass sie jetzt ebenso in den Krieg ziehen müssen wie ihre Väter damals.
Das ganze beginnt also von vorn ... Hunger, Angst, Bomben und Krankheit für die Alten, Frauen und Kinder. Für die jungen Männer heißt es Tod, Verwundung, Gefangenschaft. Das Gespenst des Antisemitismus, das schon immer umging und seit dem letzten Krieg mehr an Substanz gewann, wird zu einem Dämon, der alle Menschen heimsucht – auch denjenigen, die keine Juden sind, brennt er ein unheiliges Zeichen auf. Während die Männer im Krieg sind oder gefangen, versuchen die Frauen ihre Kinder durchzubringen, was ein ebenso harter Kampf ist wie der an der Front. Wer keine Beziehungen hat, leidet und weiß kaum, wo er Essen, Heizmaterial und Kleidung herbekommen soll.
Wie in jedem Krieg muss das Gewissen schweigen, angesichts des Elends rundum und der weinenden Kinder. Man nimmt vieles nicht mehr genau – und diejenigen, die satt sind, verhängen Todesurteile wegen eines mitgenommenen Brotes. Als endlich alles vorbei ist, holt der Winter viele von denen, die überlebten, denn sie sind geschwächt vom Hunger und der Angst.
Diese Dinge bezeichnen die ersten vierzig Jahre des Jahrhunderts der großen Kriege der Neuzeit, und diejenigen, die um die Jahrhundertwende geboren wurden, kennen nichts anderes als das. Sie sind etwa vierzig, nicht mehr so jung in einer Zeit, die keine flotten Senioren kennt – und viele von ihnen müssen mit Einschränkungen leben. Kriegsversehrt heißt dieses Wort, und Leute mit fehlenden Armen oder Beinen gehörten in den fünfziger und sechziger Jahren noch zum ganz normalen Bild. Viele können nicht vergessen, können nicht loslassen, was ihnen genommen wurde. Männer, Geschwister, Frauen, Kinder – der Krieg holte viele, manche starben an den Entbehrungen oder einfach an der mangelnden ärztlichen Hilfe.
Diese Generation wurde um ihre Jugend bestohlen, sie hatte kaum Zeit zum Leben – denn gerade in der Spanne, in der man sich sein Leben aufbaut, eine Familie gründet und im Vollbesitz seiner Kraft das Leben genießen sollte – in dieser Spanne lebte sie im Krieg. Entweder war gerade einer in Vorbereitung oder fand statt, oder aber man musste in der schweren Nachfolgezeit überleben. Dazu gehörte Trauer ebenso wie Krankheit und körperliche Behinderung. Man hatte ihnen einen Großteil des Lebens einfach gestohlen. In ganz Europa gibt es diese Generation der Verlorenen – manche Länder sind mehr betroffen und andere weniger.
Aber ist das für uns "nur" Vergangenheit? Anderswo in der Welt gibt es Menschen, die mit fünfzig oder noch viel jünger sterben und nichts anderes kennen als Krieg. Sie haben keine Vorstellung von Frieden, kannten vielleicht noch die Geschichten der Großeltern, denen sie als Kinder lauschten, wenn irgendeine austauschbare Armee oder Söldnertruppe Verdunklung angeordnet hatte. Und ein Ende ist nicht absehbar. Und sage keiner, das sind alte Geschichten – es ist die Gegenwart und vielleicht die Zukunft, wenn wir nicht einiges ändern.
© "Die Geschichte einer verlorenen Generation": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2012. Die Abbildung zeigt eine hungernde Frau und Kinder (Quelle: Wikipedia, Lizenz: gemeinfrei).
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