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Wally steht im feinen weißen Sand am Meer. Wie ein Tuch aus Seide liegt es vor ihr, glitzert und gleißt, dass sie kaum hinsehen kann. Sie schlüpft aus ihren Schuhen und streckt den rechten großen Zeh ins Wasser. Nass ist es und kalt. Erschrocken zieht Wally ihren Fuß zurück, doch dann stapft sie beherzt voran. Eine plötzlich entstandene Welle, blau mit weißem Gischtsaum, tobt ihr entgegen, gibt sich ungestümer als Wally es erwartet hat.
Das Wasser klatscht gegen ihre Knöchel, leckt an ihren Beinen, durchnässt ihre Jeans, die sie bis zu den Knien hochgekrempelt hat. Wally findet Spaß daran und watet ein Stück weiter ins Meer hinein. Bevor allerdings ihre Hosenbeine ganz mit Ostseewasser durchtränkt werden, dreht sie um. Ihre Füße durchpflügen nun den Sand, der sich an ihre Fußsohlen heftet, zwischen die Zehen schiebt, eine pudrige Schicht auf den Fußrücken hinterlässt. So besandet senkt sie die Füße in ihre Schuhe. Zum Glück trägt Wally praktische Treter, die von Matronen, wie sie eine ist, bevorzugt werden, damit Hühneraugen und Hammerzehen auch genügend Platz finden und natürlich auch ein paar Sandkörner.
Wally schlendert zur Seebrücke hinüber. Schneeweiße Gebäude scheinen aus den blauen Wassern der See aufzusteigen, Häuserchen mit bodentiefen Facettenfenstern und Türmchen auf den grauen Satteldächern. Beim Näherkommen entpuppt sich das Ganze als ein Restaurant auf der Seebrücke, einst von Kaiser Wilhelm in Auftrag gegeben, jetzt nach alten Bauplänen wieder aufgebaut.
Wally betritt den Palmensalon des Restaurants. Der ist im Jugendstil eingerichtet mit schwarz-braunen quadratischen Tischen und kleinen Sesselchen. Lilien ranken sich auf Kommodentüren und Lampen und eine angestaubte, mickrige Palme aus Kunststoff guckt Wally Mitleid erheischend an. Sie setzt sich zu ihr, damit sich das arme Ding nicht so einsam fühlt, denn Wally ist der einzige Gast.
So, jetzt hätte sie gerne einen Kaffee. Die Bedienung, adrett schwarz-weiß gekleidet, lehnt an der dunklen Theke. Sie unterhält sich mit einem männlichen Kollegen. Der trägt auch Schwarz-Weiß. Das sieht alles sehr nett und sehr appetitlich aus. Ist womöglich der Kaiser im Haus? Ach nein, der hat schon längst das Zeitliche gesegnet, und zum ebenfalls verblichenen kaiserlichen Hofstaat gehört Wally auch nicht. So wundert sie sich nicht, dass die hübsch anzusehende Bedienung keine Notiz von ihr nimmt. Vielleicht hat sie den neuen Gast auch noch nicht bemerkt. Ah, jetzt klappt die Kellnerin ihren Mund zu, jetzt wird sie sich um sie kümmern. Sie schaut auch zu ihr hinüber, schickt sogar ein Lächeln. Zu ihr oder zur angegammelten Palme? Doch die Schwarz-Weiße wendet sich erneut ihrem Kollegen zu und Wally muss sich noch eine Weile gedulden. Doch sie schwingt zwischen Traum und Realität hin und her und verliert keine Silbe über die lange Warterei, als die Kellnerin endlich an ihren Tisch gekommen ist.
"Womit kann ich dienen?", fragt die junge Frau altmodisch gestelzt.
"Einen Kaffee, bitte", antwortet Wally und lächelt.
"Eine Portion, einen Pott oder eine Tasse?"
"Wie groß ist der Pott?"
"So groß wie ein Pott eben."
"Na gut, dann eben einen Pott, der so groß wie ein Pott ist." Die Frauen strahlen sich an. "Und Kuchen. Ich hätte gerne ein Stück Kuchen. Sie haben doch welchen?"
"Aber ja, gewiss doch!"
"Was für Kuchen haben Sie denn?"
"Den müssen Sie an der Theke aussuchen."
"Können Sie mir nicht sagen, was für Kuchen Sie haben? Sind es so viele?"
"Suchen Sie sich nur einen aus."
Na gut. Wally bemüht ihre knarrenden Knochen und begibt sich auf die Suche nach der Kuchentheke. Sie findet sie nicht, kommt aber an einem gläsernen Turm vorbei, in dem zwei Kuchen ihr Leben fristen: ein gedeckter Apfelkuchen und ein Käsekuchen mit Aprikosen. Vorsichtshalber fragt sie die männliche Bedienung, die noch immer an der Theke herumhängt, ob es noch andere Kuchen gäbe. Aber der junge Mann verneint. Wally entscheidet sich für den Apfelkuchen. Der wird ihr fast sofort geliefert und so kann sie sich auf Neues konzentrieren. Das ist eine Dame mit roten Wuschelhaaren in der Tür zum Palmensalon. Sie sieht sich um. Dann steuert sie Wallys Tisch an.
"Darf ich mich zu Ihnen setzen?", fragt die Neue artig und plumps! schon hat sie sich in das freie Korbsesselchen hineinfallen lassen. Wally widmet sich intensiv ihrem Apfelkuchen, der köstlich nach Zimt schmeckt. Die schwarz-weiße Bedienung kommt angesaust und nach einiger Zeit des Verhandelns entschließt sich die Kellnerin, dass die Wuschelhaarige eine Schokolade trinken sollte.
"Aber ohne Sahne", versucht die ihre eigenen Wünsche durchzusetzen.
"Mit Sahne ist die Schokolade viel leckerer", behauptet die Schwarz-Weiße und in weniger als zwei Minuten steht die dampfende Köstlichkeit vor der Rothaarigen, mit einem Häubchen Sahne, versteht sich. Wally greift nach ihrem Pott Kaffee und denkt darüber nach, warum manche Leute schnell und andere wiederum langsam bedient werden.
"Diesen Aufenthalt hier in Sellin haben mir meine Kinder geschenkt", erzählt ihr Gegenüber unaufgefordert. Wally nimmt einen Schluck Kaffee.
"Zu meinem Geburtstag. Im August. Wissen Sie, ich habe nämlich immer im August Geburtstag."
Wallys Schluck Kaffee verfehlt bei dieser Mitteilung den richtigen Zugang zum Magen. Er landet in der Luftröhre und Wally muss husten und würgen.
Die Rothaarige, mit etlichen Knitterfältchen um Mund und Augen, kümmert es nicht.
"Ich habe hier ein schicksalhaftes Erlebnis gehabt", erläutert sie stattdessen. "Heute ist der Jahrestag. Genau vor 30 Jahren ist das passiert, mit meinem Paul." Wally vertieft sich in die Altersflecken auf dem Handrücken der Rothaarigen.
"Also", kommt die Wuschelhaarige nun zum Punkt, "der Paul ist mein Sohn. Als es passierte, war er gerade mal zwei Jahre alt. Wir saßen am Strand, ein Stück weiter hinunter, mein Freund Sascha, sein Bruder, sein Freund, ein paar Mädels. Es war ein wenig kühl und Sascha entfachte ein Feuer. Die Flammen loderten auf. Mein Paulchen quiekte vor Entzücken. Ich sah den Funken zu, die emporstiegen, den Ascheteilchen, die mit den Funken 'Fange' spielten und rückte zu Sascha, Pauls Vater. Ich war so verliebt in ihn. Ich kuschelte mich in seine Arme, schaute dann nach Paul ... Er war ... weg." Sie schluckt.
"War er weggelaufen?", fragt Wally nun mit einem Hauch von Interesse.
"Weggelaufen? Ach, da wäre ich ja froh gewesen. Aber er zappelte im Feuer! Es war furchtbar, ganz schrecklich! Ich glaube, mein Herz blieb stehen! Sascha sprang auf, riss Paul hoch. Ich, ich war wie gelähmt! Konnte nicht einmal schreien!"
Lang schon ist die Seligkeit des Tages verflogen. Die Wellen werfen sich plötzlich voller Wut gegen die Pfosten der Seebrücke und die Möwen kreischen ihr Hohngelächter dazu.
"War er schwer verletzt, Ihr Paul?", wagt Wally endlich zu fragen und fühlt, wie ihr Herz schmerzt.
"Er war tot! Was denken Sie denn?" Die Rothaarige versenkt sich in die Sahne auf ihrer Schokolade. Nach einer Weile stellt sie die Tasse hin, steht auf und geht. Bezahlt hat sie nicht. Zurück bleibt ein Flöckchen Sahne in ihrer Tasse, von der Schokolade traurig braun verfärbt. Die Bedienung kommt zum Abräumen.
"Schlimm, was so alles passiert. Ein Kind durch Feuer verlieren ..." Wally kann die Lebensbeichte der Wuschelhaarigen kaum ertragen.
"Ach, die Frau Moritz", plappert die Schwarz-Weiße, "machen Sie sich mal keinen Kopf. Die Frau Moritz ist ein bisschen meschugge. Ich kenne sie gut, wissen Sie. Früher kam sie immer mit ihrem Mann Sascha her. Aber der ist letztes Jahr verstorben."
Die Bedienung dreht sich zur Theke, wo sich der schwarz-weiße Kerl noch immer herumräkelt.
"Paul, kommste mal rüber? Deine Mutter hat wieder ihre makabre Geschichte von deinem Feuer-Tod erzählt, und den Kakao hat sie auch nicht bezahlt!"
© "Paulchen aus der Asche": Erzählung von Jutta Schöps-Körber. Die Abbildung zeigt die Seebrücke im Ostseebad Sellin auf der Insel Rügen; Urheber: Haloorange.
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