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Ich erinnere mich an das Wort "Flüchtling" aus meiner Kindheit. Kinder hören Nuancen in der Sprache sehr gut. Dieses Wort war nicht gut belegt. Wenn von jemandem die Rede war, dann kam manchmal dieses Wort, Flüchtling, vor.
Die Stimme wurde dann anders. "Das sind ja Flüchtlinge". Was das Wort bedeutete, wusste ich nicht. Aber es wurde hier und da zur Erklärung benutzt.
"Sind ja auch Flüchtlinge, wissen Sie ..." So als wäre alles gesagt. Natürlich fragte ich irgendwann einmal danach. Aber an die Antwort erinnere ich mich nicht. Es hatte wohl keine gegeben.
Jahre später erfuhr ich, was es mit den Trecks aus dem Osten auf sich hatte. Nicht etwa in der Schule. In den sechziger Jahren wurde diese Zeit ausgeblendet. Wir Schüler erfuhren kaum etwas darüber.
Zuhause hörte man schon mehr. Vieles verklärt, das meiste allerdings verbitterte Erinnerungen. Aber von den Flüchtlingen aus dem Osten sagten sie nichts, oder fast nichts. Man musste nachlesen, um etwas darüber zu erfahren.
Es waren ja Deutsche gewesen, die da mit Fuhrwerken oder zu Fuß ankamen im Westen. Es waren Deutsche gewesen. Sie benutzten andere Wörter für viele Dinge. Ihr Deutsch war anders als das gewohnte. Sie kamen von weit her. Und doch waren sie Deutsche.
Aber für sehr viele im Westen waren sie nur solche, die etwas von dem wenigen haben wollten, das der Krieg übrig gelassen hatte. Hinter ihnen rückte die russische Armee nach. Hinter ihnen kam der Feind.
Was man ihnen vorgeworfen hatte? Gier. Unehrlichkeit. Unsauberkeit. Selbstverschuldetes Unglück.
"Flüchtling" – das war ein Schimpfwort.
Weiter erinnere ich mich an den Moment, in dem ich erfuhr, dass es eine Mauer gab. Eine Mauer, die Deutschland teilte. Es war eine sonderbare Sache mit dem geteilten Land. Dass es Familien gab, die dadurch ebenso geteilt waren. Und dass niemand diese Mauer überwinden durfte. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen.
Und es gab eine weitere Bezeichnung zu lernen: "Die sind von drüben". So, als sagte das alles. Es klang im Ohr wie: "Die sind ein wenig zurückgeblieben". "Von drüben" – das klang nicht gut. Und es war auch nicht gut gemeint.
Manche "von drüben" waren an ihrer Sprache erkennbar. Ich fand das interessant. Sonst fand ich keinen Unterschied.
Gleichzeitig hörte man Klagen. Klagen darüber, dass das Land geteilt war und man seit langen Jahren Onkel, Tante, Bruder oder Schwester nicht gesehen hatte. Und dass man sich so sehnte.
Waren denn Onkel, Tante, Bruder oder Schwester nicht "von drüben"? Waren sie anders "von drüben" als die normalen Leute, die "von drüben" kamen? Für Kinder war das verwirrend.
Dann gab es wieder Flüchtlinge. Flüchtlinge von drüben. Ein Ton von widerwilliger Bewunderung in der Stimme. Wer es per Ballon, per Tunnel oder einfach als Sprinter über die Mauer geschafft hatte, war zwar ein Flüchtling, aber ein mutiger. Ich dachte an das Märchen vom Schlaraffenland, in das man nicht ohne Prüfung kommt. So hörte sich das an, wenn die Erwachsenen davon redeten.
Flüchtling. Immer wieder Flüchtling.
Dann hörte es auf.
Vergessen wir nicht die Gastarbeiter. Ali, Dimitrios, Enisa oder Ana. Meist machte man sich nicht die Mühe, die richtigen Namen zu erfahren. In den Firmen wurden die Italiener, Spanier und Griechen nie als Herr oder Frau angesprochen oder gar gesiezt. Das war beschämend. Ich fand es beschämend. Ich fragte immer nach dem Namen. Ich duzte nie jemanden, ohne dass man mir das angeboten hatte. Aber ich schämte mich für die anderen.
Ich tue es noch heute.
Ich habe die Polacken vergessen. Polacken gab es auch. Die waren ganz besonders. Niemand mochte Polacken. Als kleines Kind hatte ich gedacht, das Wort bezeichnet Räuber oder Bösewicht. Ich war entsetzt, als ich erfuhr, was damit gemeint war.
Auch dafür schämte ich mich.
Jahre vergingen. Viele Jahre. Wiedervereinigung. Sie kam in greifbare Nähe. Ich war skeptisch. Ich hatte viel über meine Landsleute gelernt. Ich wusste, diese Euphorie würde nicht von Dauer sein. Und nicht lange nach dem Rausch hörte man die Worte: Die Mauer müsste wieder her, aber doppelt so hoch.
Aber waren es nicht Deutsche?
Ich war längst alt genug, um genau diese Frage zu stellen. Ich erinnere mich nicht an eine Antwort.
Es gibt nie eine Antwort.
Jetzt wieder: "Flüchtlinge". Sie sind wieder da. Nicht aus Deutschland. Nicht von hier. Von anderswo. Was wird geschehen, dachte ich. Was passiert, wenn Flüchtlinge kommen, die aus einem anderen Land kommen? Was geschieht hier, bei diesen Leuten, die keine Scheu haben, die eigenen Landsleute zu degradieren, sobald sie zu Flüchtlingen geworden sind?
Und dann habe ich gesehen, was geschieht. Und ich schäme mich wie nie zuvor.
Und jetzt, so gestehe ich, jetzt wünsche auch ich mir eine Mauer.
Ich wünsche eine Mauer, die den Osten aussperrt. Mauert sie ein, denke ich. Lasst sie ihr Reich leben, ihr nie gewesenes Reich des Bekannten und Gewohnten. Lasst sie lernen, dass weder Hass noch Angst für volle Teller sorgt. Für die Bildung der Kinder. Für ein Leben in Würde.
Lasst es wieder zwei deutsche Länder sein. Das Deutschland der Anständigen und Toleranten. Und zieht eine Mauer zum Deutschland der Ängstlichen und Hasserfüllten. Lasst sie lernen. Gebt ihnen den Raum.
Und dann, wenn die ersten sich an der Mauer finden – diejenigen, die Hunger haben, weil Herrenmenschentum und Gewalt keine Mägen füllt – dann lasst sie nicht herein. Lasst sie nicht herein. Denn sie sind Flüchtlinge.
© "Flüchtlinge – von hier und anderswo. Warum ich mir eine Mauer wünsche": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2016. Bildnachweis: Steine einer Maurer, CC0 (Public Domain Lizenz).
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