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Niemand ist nur Faschist – und das macht es kompliziert. Für diejenigen, die anders denken. Als Teenager und junger Erwachsener litt ich extrem unter dem Schwarz-Weiß-Syndrom. Schnell bei der Hand mit dem Urteil, und noch schneller bereit zu glauben, alles verstanden zu haben.
Unterrichtsstunden in Sachen Sozialkunde sind ja an jeder Ecke völlig kostenlos zu haben, wenn man sie nur annimmt. Und solche Nachhilfe kann sehr schmerzhaft sein. Meine erste Stunde hatte ich während meiner Amateurtheaterzeit.
Das Ensemble bestand aus Leuten zwischen zwanzig und sechzig Jahren. Wobei der einzige Senior näher an den Siebzigern war. Dieser unglaublich freundliche alte Herr wurde sehr schnell zum Liebling der Gruppe.
Er hatte wunderschönes, weißes dichtes Haar, der Herr K. Das ganze Erscheinungsbild erinnerte mich ein wenig an den Verhaltensforscher Konrad Lorenz. Herr K. trug zu seinen Anzügen immer eine Fliege. Das macht einen netten Eindruck, warum auch immer das so ist.
Der alte Mann gab den Militärarzt Tschebutykin aus Tschechows "Drei Schwestern". Herr K. hatte nicht übertrieben viel Text, aber doch immerhin war er sehr präsent. Er meisterte das gut, indem er auf der Bühne eine Zeitung las. Natürlich war da der Spickzettel versteckt – eine pfiffige Sache.
Vom Äußeren her war Herr K. die Traumbesetzung – aber auch von seiner Lust am Spiel. Wie auch immer, wenn man mehrere Wochen täglich zusammenkommt, erfährt man so manches über die Mitspieler. Herr K. war sehr krank gewesen: Krebs. Seit seiner Operation hatte er nun einen künstlichen Darmausgang, was ihn zuweilen etwas Planung und Umsicht bei seiner Zeiteinteilung kostete. Sein Freimut, mit der er über sein Problem sprach, berührte uns alle. Er brachte uns Vertrauen entgegen, wenn auch wahrscheinlich gezwungenermaßen.
Wir waren eine gute Gruppe und hatten Spaß miteinander. Mich freute vor allem der generationsübergreifende Effekt. Und dann musste ich nachsitzen. Und das sehr gründlich.
Ich erinnere mich nicht mehr an den Zusammenhang, in dem dieses Thema aufkam. Aber der liebe alte Herr K. erklärte mit treuherzigem Lächeln, dass er "rechts" wähle. Und das schon "immer", wie er sagte. Das war alles. Er gab kein politisches Statement ab. Er schimpfte weder auf irgendjemanden noch verlor er ein Wort über Politik.
Damit hätte ich vielleicht besser umgehen können. Aber so war er einfach der alte Mann, den jeder mochte und der auch jeden mochte.
Den Autor Tschechow bewunderte er – nicht selbstverständlich bei den Menschen seines Jahrgangs. Für sie waren die Russen noch der Feind gewesen. Einer unserer Mitspieler war homosexuell und verbarg das keineswegs. Herr K. mochte den jungen Mann, wie er alle mochte. Nie hörte man eines der Worte, die man so oft von Wählern der gemäßigten Mitte hörte. "Itaker – Spaghettifresser – Scheißtürken". Nichts davon. Hätte eine Aische oder ein Giovanni zum Ensemble gehört, hätte er sie auch gemocht. Da bin ich mir heute noch völlig sicher.
Aber da war das gewesen: "Ich wähle ja die NPD."
Ich musste aufstehen und den Raum verlassen, unter einem Vorwand. Noch bevor meine naiven Vorstellungen in Fetzen auf den Dielenboden des Probenraumes krachten. Was ich vorher gedacht hatte, kann ich nicht genau sagen. Wahrscheinlich war ich gar nicht so weit weg davon, mir "Nazis" als hörnerbewehrte Ungeheuer vorzustellen. Als ständig schreiende und Hasstiraden verbreitende, zackige Typen. Dabei hätte ich es besser wissen sollen, denn da war dieser Onkel. Begeisterter Anhänger Hitlers, der als ganz junger Mann schwer verletzt wurde und seitdem der Front fern geblieben war. Onkel L. hatte einen verkrüppelten Arm. Wie es zu einer Verletzung kam, hatte ich nie herausgefunden. Wahrscheinlich war sie ziviler Natur gewesen.
Onkel L. tickte durch, als seine Tochter einen Besatzungssoldaten heiratete. Nicht, dass er nicht später seine Enkel begeistert verwöhnt und auch den Schwiegersohn akzeptiert hätte – aber bis dahin tobte er nicht schlecht. Meine Güte: ein AMI. Dass der junge Mann ein Latino war, machte die Sache nicht gerade besser.
Ansonsten war Onkel L. ganz okay. Er hatte Humor. Wenn er auch dieses sonderbare, bundesrepublikanische Machotum des Wirtschaftswunders lebte. Dass er seine Kinder noch mit dem Lederriemen erzogen hatte, passte zu ihm. Ich wusste, dass er mich nicht so besonders mochte, das aber zu verbergen suchte. Ich war ihm gegenüber auch eher vorsichtig. Später erfuhr ich, wieso er Vorbehalte hatte: ich war ein Besatzungskind. Was man zwar nicht sah – aber in der Familie eben wusste. "Das Kind kann ja nichts dafür." So ein Satz passte zu Onkel L. Wie auch immer, es hätte mich vorbereiten müssen und tat es nicht. In ihm konnte man viel eher den Hitlersympathisanten erkennen als in dem lieben Herrn K.
Ich habe Herrn K. meine Sympathie nicht entzogen. Ich konnte es nicht. Oder sagen wir, ich habe ihm meine Freundlichkeit nicht entzogen. Ich ließ ihn den Riss nie spüren. Unsere Wege trennten sich nach den Aufführungen ja sowieso, wie ich wusste. Aber bis heute ist mir diese "Schulstunde" in schmerzhafter Erinnerung.
Aber genutzt hat sie, diese Nachhilfe in Sachen "Grauabstufungen". Wenn ich heute Statements von Menschen lese, die sich offen zu rechtem Gedankengut bekennen und einen Hilfeaufruf für gequälte Tiere nach dem anderen starten, dann widert mich das an. Aber es wundert mich nicht mehr.
Und ich sehe in diesem Fall den Faschisten. Nicht die mitfühlende Seele, die Hunde rettet und Unterschriften gegen Delphinarien sammelt. Ich glaube nicht daran, dass man zwar Spezies-übergreifend lieben kann, aber nicht Nationalitäten-übergreifend. Vordergründig geschieht aber genau das: Man betrachtet Tiere als hochwertigere Geschöpfe als Menschen mit anderer Nationalität oder anderem Glauben. Wenn es so weit kommt, stimmt nichts mehr.
Heute frage ich mich hin und wieder, wen er denn gehasst haben mag, der Herr K. Was ich nicht über ihn wusste, würde ja Bände füllen – vielleicht war er nicht so, wie wir ihn sehen sollten. Oder war er naiv? Wohl kaum, denn an Intelligenz und Bildung mangelte es ihm keineswegs.
Er wird mir immer ein Rätsel bleiben. Denn noch heute glaube ich, dass seine Freundlichkeit durchaus echt war.
Was ich den rechten Tierschützern – die vorgeben, Tiere retten zu wollen – nicht zugestehe. Niemand ist nur Faschist – mancher ist zusätzlich auch verwirrt. Und von einer großen Lebenslüge gebeutelt.
© "Faschisten und nette Menschen, die Tiere retten": Textbeitrag von Pressenet, 2016; Bildnachweis: Schwarz-Weiße Collage, CC0 (Public Domain Lizenz).
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