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Wir haben das Jahr 2087. Heute habe ich eine Entdeckung gemacht, die mich ziemlich verstört hat.
Ich habe alte Unterlagen gefunden. Sie stammen von meiner Urgroßmutter und sind auf Papier geschrieben. Das ist schon sonderbar, denn um 2020 herum hat doch keiner mehr so geschrieben, oder?
Es handelt sich um ein Buch. Tagebuch nennt man das, glaube ich. Zwischen den Seiten liegen manchmal einfache Zettel, die zerrissen und schmutzig sind. Sie hat mit verschiedenen Geräten geschrieben. Manches kann ich gut lesen, anderes nicht so gut. Es gibt nur eine Jahreszahl: 2019. Dann hat sie scheinbar kein Datum mehr benannt.
Alles lag in dieser Kassette, hinter der alten Klavierkiste auf dem Dachboden. Wenn ich nicht nach der Katze gesucht hätte, wäre mir das nie aufgefallen.
Heute Abend, wenn ich nach Hause gekommen bin und die Kinder im Bett sind, werde ich anfangen zu lesen.
"Wir können es nicht glauben, aber wir müssen doch die Stadt räumen. Sven hat immer gelacht, wenn er gelesen hat, dass es zum Krieg kommen würde. Auch jetzt sagt er nur, dass es nicht so schlimm werden wird. Dass wir für einige Wochen eben nach Mannheim zu seiner Schwester gehen werden.
Ich will nicht weg. Hier werden die Himbeeren bald reif sein und ich habe mich darauf gefreut, Marmelade zu machen und Eis für die Enkel.
Ich bin froh, dass meine beiden Jungs weit im Norden wohnen.
Jana ist freundlich zu uns. Das finde ich schön, denn wir sind mit einigem Gepäck hier angekommen. Sven hängt nur noch am PC, um zu sehen, wie die Lage ist. Janas Mann spricht nicht viel mit uns. Seine Bequemlichkeit leidet ein wenig unter unserem Hiersein. Aber er soll sich nicht aufregen – wir hätten das doch auch für ihn getan.
Trotzdem bin ich unglücklich hier. Noch immer tun mir meine Beerensträucher leid. Sven hat mich angeraunzt. Es gäbe Wichtigeres als die gottverdammten Himbeeren und das ganze Zeug.
Er hat ja recht. Aber trotzdem tut es mir leid darum.
Als er gesehen hat, dass ich aufschreibe, hat er genickt. Das macht mir am meisten Angst. Er hält es für wichtig, dass ich das tue.
Mannheim soll evakuiert werden. Janas Mann tobt wie ein Irrer. Er schnauzt herum und wirft uns ziemlich düstere Blicke zu. Als ob wir Schuld dran hätten.
In den Straßen ist es nicht mehr sicher. Die Rechten Milizen liefern sich immer öfter am helllichten Tag auf offener Straße Kämpfe mit den Roten. Gestern hat eine Kirche gebrannt, die Leute aufgenommen hatte. Die jungen Muslime haben sich ebenfalls formiert. Sie haben aber auch mit den Verschiedenheiten zu kämpfen, da ihre Großeltern oder noch ihre Eltern aus verschiedenen Ländern kommen. Sie kämpfen gegen die Rechten, und manchmal tun sie das mit den Linken zusammen. Aber bei denen gibt es halt auch Fanatiker. Die wollen nur eigene Leute.
Russische Truppen sollen kommen, heißt es. Sie wollen unseren Freiheitskampf unterstützen. Was für ein Freiheitskampf? Keiner weiß mehr worum es geht – nur, dass man gute Chancen hat, beim Einkaufen erschossen oder schwer verprügelt zu werden.
Das ist Herrn Schröder passiert. Der wohnt auf der ersten Etage und trägt die Haare lang und in einen Pferdeschwanz gebunden. Dem haben sie mit Sprühfarbe linke Zeke auf die Brust gesprüht. Die Nase ist mehrfach gebrochen und er hat ziemliche Schmerzen. Es wäre komisch, wenn es nicht so fürchterlich wäre. Also das mit der Zeke."
Das hier ist mit einem anderen Stift geschrieben und scheinbar eine ganze Zeit später.
"Ich hab lange nichts mehr geschrieben. Alles musste so schnell gehen. Tatsächlich sind vor etwa zwei Monaten russische Hilfstruppen eingetroffen in Mannheim. Amerikanische Truppen waren eine Zeit vorher stationiert worden. Sollten uns wohl auch in unserem Kampf unterstützen.
Was für ein Kampf? Ich will nach Hause und ich will meine Jungs sehen. Von denen hört man aber nicht viel. Das Internet ist sehr begrenzt worden.
Jana und ihr Mann wollten ausharren. Also ihr Mann wollte das. Er hat versucht, sich bei der einen oder anderen Gruppe anzubiedern, wie es scheint. Er hat hier und da Sachen mit heimgebracht, die mittlerweile sehr schwer zu bekommen sind. Kaffee und Aspirin und sowas.
Sven und ich haben verzichtet. Jana hätte das wohl auch getan. Aber dann trank sie Kaffee und hielt sich ein gekühltes Gelkissen an ihr linkes Auge.
Wir mussten weg. Aber wie? Die Banken haben erst einmal dicht gemacht. Also Institute wie Sparkassen und so.
Herr Schröder ist verschwunden. Er kam von einer Exkursion nicht mehr zurück. Jana hatte ihm angeboten, ihm die Haare zu schneiden. Aber er hatte nur den Kopf geschüttelt.
Geld haben wir nicht. Nur das, was Sven eingesteckt hatte. Wir hatten unser Gespartes auf der Bank.
Wenn wir aus dem Haus gehen, werden wir auf dem Weg zum Markt mehrmals kontrolliert.
Die Rechten patrouillieren zwischen den Häuserblocks. Wehe wenn man einen Fransenschal oder sonst etwas trägt, das sie mit Links oder so etwas in Verbindung bringen.
Mädchen nehmen sie gern zur Seite. Die werden durchsucht. Und zwar so, dass sie tagelang weinen.
Die Amis sind zwar freundlicher, aber die machen nicht viel Federlesens, wenn sie die Männer nach Waffen durchsuchen. Bei den Russen ist es ebenso.
Ich hab den Überblick verloren.
Sven sagt, er hat jemanden kennengelernt. Einen Mann. Einen echten Patrioten, der das hier Scheiße findet. Einen, der im Untergrund Leute rausschleust.
Ich hab nur noch Angst."
Hier gibt es wieder einen Bruch. Jetzt hat sie einen roten Stift benutzt.
"Wir sind in Frankreich. Ich kann kaum Französisch. Die Leute hier mögen uns nicht. Sie haben selber genug Probleme. Ich höre immer das Wort Boche. Es hat mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun, dass sie das sagen. Ich weiß das, aber Sven glaubt immer, mir alles ganz genau erklären zu müssen.
Er hat abgenommen. Seine Gemütlichkeitsringe um seine Hüften sind völlig weg. Aber meine Klamotten schlackern auch um mich herum.
Wir kriegen zu essen, auch Kleider die gespendet werden. Aber vor dem ehemaligen Reitstall, in dem wir untergebracht sind, stehen öfter mal Leute und rufen etwas. Ich bin froh, dass ich sie nicht verstehe.
Sven und ich liegen auf harten Matratzen in einer der Boxen. Sven macht Witze. Er nennt mich sein bestes Pferd im Stall.
Ich habe noch zweimal etwas von meinen Söhnen gehört. Jakob und Manfred. Sie wollen mit ihren Familien nach Norwegen flüchten. Da gibt es Schiffe, die gegen gutes Geld Flüchtlinge an der Küste absetzen. Im Dunkeln. Ich habe gehört, dass es oft nur Boote sind und dass Leute sich so ein Ding besorgen, um auf eigene Faust überzusetzen. Und dass schon viele ertrunken sind dabei. Jakob hat zwei kleine Kinder und Manfred ist verlobt. Aber sie ist nicht mit ihm gegangen.
Wir frieren nachts ein wenig. Sven, der besser französisch versteht, glaubt dass wir von hier fortmüssen.
Nach Hause können wir nicht.
Die Rechten haben das Land in Brand gesetzt. Amerikaner und Russen können dem nicht Einhalt gebieten und wahrscheinlich wollen sie es auch nicht wirklich.
Es gibt aber keine Deutschen mehr, sagt Sven. Nur noch Leute, die behandelt werden, als wären sie Vieh, das zu gehorchen hat. Die eilig zusammengestellten Kader der Braunen kümmern sich nicht um die Versorgung. Alle haben Hunger.
Oh Gott, mein kleiner Garten. Ich träume manchmal von diesen Himbeeren und Brombeeren, die ich nicht mehr ernten konnte.
Sven sagte, wir hauen ab. Es gibt einen Weg. Nach dem Süden."
Ab hier hat sie mit immer verschiedenen Stiften geschrieben. Große Absätze dazwischen.
"Ägypten. Wir sind in Ägypten. Ich muss ein wenig aufpassen mit den Stiften. Ich will vergessen, wie es war auf der Flucht hierher. Ich will es vergessen.
Sven ist krank, sehr krank. Es gibt ärztliche Hilfe hier, aber die ist unzureichend. Sven liegt auf der Pritsche und starrt an die Decke. Die Flucht hat ihn zerbrochen. Mich auch. Aber das sieht man nicht.
Wegen uns Flüchtlingen gibt es hier fast einen Bürgerkrieg. Hunderte von Menschen stehen vor dem alten Krankenhaus, in das man uns gebracht hat. Sie wollen uns nicht hier haben.
Eine der Helferinnen spricht Deutsch. Sie hat einige Zeit in Deutschland gelebt. Sie sagt, die Leute draußen wollen nicht, dass wir ihre Kultur verderben. Sie schreien in Chören: Huren raus aus unseren Land. Huren raus. Huren raus.
Sie spucken aus, wenn sie uns Frauen sehen. Weil wir uns nicht verhüllen. Ich möchte ihnen sagen, dass wir keine Huren sind. Dass es bei uns zu Hause üblich war. Sie haben auch gelacht, als manche unserer Männer in kurzen Hosen ein wenig draußen Luft geschöpft haben.
Es ist gegen die Regeln, die hier im Land seit hunderten von Jahren Tradition sind.
Was meinen sie mit anpassen? Ich gefährde ihre morgenländische islamische Kultur doch nicht. Ich will nur überleben. Glauben die etwa, dass ich gerne hier bin? Nach Hause will ich. Nach Hause. Ich weiß nichts über meine Freunde, meine Verwandten, oder was mit unserem Haus passiert ist. Letzte Nacht habe ich von der Missy geträumt. Meiner Katze. Wie konnte ich die vergessen? Sie war oft unterwegs. Hoffentlich ist ihr nichts passiert.
Sven nimmt mich in die Arme und tröstet mich. Katzen sind Überlebenskünstler, sagt er.
Zweimal am Tag kann hier jeder das Internet benutzen. Smartphones haben auch viele von uns. Sie leihen aus, wenn man nett fragt. So hab ich erfahren, dass Jakob in Finnland gelandet ist und dort im Wald arbeitet. Er kriegt grade so viel, dass sie nicht verhungern. Ohne Spenden ginge es nicht. Den Kindern geht es ganz gut, aber sie dürfen dort nicht in die Schule gehen. Erst müssen sie die Amtssprache lernen.
Jakob hat eine Frau kennengelernt. Auch in Finnland. Es gibt Ärger deswegen. Seine Verlobte, Mischa, ist in Deutschland geblieben und hat einen der rechten Clanführer geheiratet. So nennen sie sich, die Mörder. Clanführer. Sie heiraten auch nicht, sie machen so ein Dings mit Runen und solchem Kram.
Ach, meine Heimat. Meine Heimat.
Einige von uns Flüchtlingen sind sauer, weil es sich bei den Klamotten um die landesüblichen Sachen hier handelt.
Sven meint, das Zeug sei sehr praktisch bei der Hitze hier. Er liegt auf der Pritsche und hat so ein langes, weißes Teil an. Es ist bequem und kühl, sagt er. Ich trag auch jetzt lange Sachen aus leichter Baumwolle.
Angenehm eigentlich. Und ist es nicht egal?
Verschleiert gehe ich aber nicht.
Der Arzt lacht, weil ich das einmal zu ihm sage. Er hat für Sven ein Medikament für seinen Blutdruck besorgt. Der ist nämlich astronomisch hoch gewesen auf einmal. Und sein Herz war auch angeschlagen. Ein freundlicher Mensch ist er, der Doktor.
Er entschuldigt sich für seine Landsleute. Was sich da vor dem Heim zusammenrottet, das seien nicht die wirklichen Ägypter. Das sei der Abschaum. Wir sollen nicht denken, dass alle hier so sind. Ich glaube ihm das. Und ich hoffe bei allen Göttern – heißen sie nun Jehova oder Allah oder sonst wie – dass das auch die Flüchtlinge geglaubt hatten, die in Deutschland Zuflucht gesucht hatten. Ich bin kein sehr religiöser Mensch. Aber Jakob hat mir einmal von karmischen Regeln erzählt. Darüber sollte ich nachdenken.
Sven hält mich für uninformiert. Aber das stimmt nicht. Ich nutze nur andere Quellen. Die Gesichter der Menschen und die Art, wie sie sich bewegen.
Es gibt Christen hier im Land. Die spenden uns oft Dinge. Einmal hat eine Frau uns besucht. Sie konnte kein Deutsch und auch kein Englisch. Aber sie hat sich zu uns gesetzt und eine Art Konfekt mitgebracht.
Sie hat uns angelächelt und uns umarmt. Nach oben gezeigt, in den Himmel. Die Arme ausgebreitet. Als sie das tat, kam gerade die Pflegerin dazu. Sie hat angefangen zu weinen und sagte in etwa: Es ist alles ein Gott und er sorgt für uns alle. Das hat der Arzt übersetzt.
Dann haben alle geheult und jemand hat ein Lied angestimmt. Wir saßen alle in diesem alten und baufälligen Krankenhaus und sangen Amazing Grace. Und solange wir sangen, war ich zuhause.
Wir müssen weiter. Der Arzt hat es heute gesagt. In ein anderes Heim. Etwa hundert Kilometer weit weg von hier. Sie bringen uns mit Lastwägen hin. Soldaten werden uns beschützen.
Ich bin von einem Stein getroffen worden. Mir ist seitdem schwindlig und ich habe Kopfschmerzen. Es passierte, als wir die Unterkunft verließen.
Die Soldaten hätten das verhindern sollen. Aber nicht alle stehen auf unserer Seite. Als ein Mann laut schreiend auf uns zurannte und mit aller Kraft den Stein schmiss, der mich traf, tat der Soldat, der am nächsten stand, nichts.
Dann kam ein anderer Soldat gerannt und brüllte den Wegseher in Grund und Boden. Der Steineschmeißer wurde festgenommen.
Ich war weggetreten. Sven hatte es mir erzählt.
Das Lager hier ist sehr einsam. Keine Brüller vor dem Tor. Fast in der Wüste. Wasser gibt es nicht viel. Wir fangen alle an, etwas intensiv zu riechen. Das Essen ist nicht schlecht, aber wenig.
Dafür sind alle freundlich zu uns.
Einer der Flüchtlinge schimpft pausenlos über die Mullahs und Kameltreiber. Wir anderen reden mit ihm darüber – aber er macht ständig weiter. Er war jemand, wie er glaubt. Hatte einen Laden. Und sogar das richtige Parteibuch. Wieso er abgehauen ist, sagt er nicht. Und ich will es nicht wissen. Er ist ziemlich isoliert. Keiner will richtig mit ihm zu tun haben.
Keine Nachrichten von den Jungs. In Deutschland greifen die Truppen der Russen und der Amerikaner jetzt mehr ein. Sie unterstützen die liberalen Widerstandskämpfer. Das sagt jedenfalls Sven.
Weiter hören wir, dass sich die Linken aller Schattierungen und auch die jungen Halbmondkämpfer endgültig zusammengeschlossen haben. Sie haben Gruppen für medizinische Hilfe gebildet und besondere Wachen für die Kinder abgestellt. Alle Kinder, ganz gleich welcher Herkunft, sind zusammen untergebracht in verschiedenen Verstecken.
Wie ich später erfahre, haben die Leute, die genau so sind, wie die Typen hier vor den Zäunen der Unterkünfte, alles was sie angefasst haben, in den Sand gesetzt.
Haben sich gefeiert, haben alles, was sich irgendwie bewegt hat, unterdrückt und gestohlen, getötet, vergewaltigt.
Jetzt geht es nur noch um kleine Gruppen, die sich nicht ergeben wollen und sich einen Guerillakampf liefern.
Da niemand sich gekümmert hat, sind die Nahrungsmittel in Deutschland knapp geworden. Die Kader haben Wohllebe gemacht und den andern nur den bedingungslosen Gehorsam gelassen.
Deshalb haben sich sehr viele der Braunen ergeben.
Auch sie wollen fressen.
Die Russen und die Amis verhaften Leute. Es hat Hinrichtungen gegeben, bei denen so genannte Volksverräter exekutiert wurden. Wer ein Verräter war, setzte der jeweilige Zellenführer fest.
So war es auch um 1944. Genau so. Was haben die nur getan?
Die liberalen Truppen bilden eine Regierung. Das hat jemand verbreitet. Und der Hauptmann der Soldaten, die hier stationiert sind, hat es bestätigt. Seine Frau spricht gut englisch. Sie ist sehr freundlich und erzählt uns manchmal, was los ist.
Die Frau hat mich gebeten, ihr hier und da zu helfen. Das tue ich gerne. Und höre dafür vieles. Sven nennt mich Mata Hari.
Alter Knallkopf.
Es ist jetzt amtlich sozusagen. Es gibt wieder ein Deutschland. Die Russen sind abgezogen und die Amis werden es bald tun.
Die neue Interimsregierung besteht aus Deutschen. Liberalen Deutschen, die hier geboren sind und solchen, deren Eltern eingewandert waren.
Wir können bald heim. Wir können heim, heim, heim.
Noch immer gibt es Prozesse gegen die Mörder und Faschisten. Recht so. Man muss das ein für allemal beenden.
Sven sagt, ich solle nicht so rachsüchtig sein. Aber das bin ich. Das bin ich.
Ich hab gesehen wie Aische aus dem Haus gegangen ist. Meine Freundin Aische. Als man sie fand, war sie so zugerichtet worden, dass sie in die Klinik kam. Und dann hatte ich nie wieder etwas von ihr gehört. Ihr Mann verschwand bald darauf.
Das war kurz bevor wir abgehauen waren. Ich konnte nie darüber schreiben. Nicht mal nachdenken.
Die Hauptmannsfrau hat mir Kugelschreiber geschenkt. Ein ganzes Bündel.
Sven geht es nicht gut. Der Lagerarzt runzelt die Stirn. Er gibt ihm neue Tabletten und rät zur Meditation. Das tut er in einwandfreiem Deutsch. Er hat in Deutschland studiert, sagt er.
Mein Mann lacht. Er sagt, dass es ihm besser geht, wenn er endlich daheim ist und weiß, dass der Spuk ein Ende hat.
Der Doktor fasst Svens Hand und drückt sie.
Sven ist richtig aufgelebt. Seit er weiß, dass wir alle hier weggehen werden. Und nicht in ein neues Lager – sondern nach Hause.
Wir sind noch einmal umgezogen. Jetzt sind wir in Kairo. Da hatte ich schon immer mal hingewollt. Aber ich sehe nur, was mich die Zäune sehen lassen. Aber man ist jetzt nicht mehr so böse auf uns. Weil wir hier nur kurze Zeit bleiben werden. Dann fahren wir heim.
Keine Steineschmeißer und keine Parolenbrüller mehr.
Jakob ist schon in Deutschland. Er wird bald nach Hause fahren und sehen, was mit dem Haus passiert ist.
Manfred hat Kerttu geheiratet. Die Finnin. Er wird erst später nach Deutschland kommen. Wenn es ruhiger geworden ist. Er wird nämlich Vater.
Ich bin glücklich. Leise glücklich. Sven geht herum und sieht besser aus als in der ganzen Zeit vorher.
Ein Soldat grinst uns an, als wir auf dem Hof in der Sonne sitzen. Dann winkt er und zeigt uns eine Liste.
Darauf stehen in deutsch die Namen derjenigen, die mit dem nächsten Transport fahren werden. Sven und ich sind dabei. Der Mann zwinkert uns zu und schenkt uns eine Art Lebkuchen, wie sie hier gemacht werden.
Eins weiß ich sicher, ich werde vieles mit heimnehmen aus der arabischen Küche. Sven liebt das. Und ich auch."
Wieder scheint es einen großen Bruch zu geben. Die letzte Seite ist mit Füller geschrieben. Allerdings sehr verblasst.
"Endlich.
Unser Haus wurde scheinbar als Lager oder so etwas benutzt. Da es nur ein einstöckiges kleines Gebäude ist, war es nicht von großem Interesse. Kaputt ist nichts. Es stehen aber Säcke mit Sand herum.
Wir können froh sein. Wir haben gesehen, was mit den Häusern passiert ist, in denen die Rechten ihre Hauptquartiere hatten.
Als ich endlich in meinen Garten komme, der um einiges kleiner ist, weil sich die Beerensträucher ausgebreitet haben, lache ich laut. Und lache und lache und lache – bis daraus ein Weinen wird. Ein heulendes Weinen. Sven reißt mich geradezu in seine Arme. Und dann dreht er mich herum, dass ich sehe, wer da auf der Fensterbank hockt.
Als ich Missy erkenne, meine Tigerkatze mit der weißen Schwanzspitze, raste ich endgültig aus vor Freude.
Abends pflückten wir dann Beeren. Es ist wieder Beerenzeit. Wie damals.
Jakob wird in den nächsten Tagen kommen. Sven ist den ganzen Tag unterwegs, um beim Aufräumen zu helfen. Er sagt, es geht ihm so gut wie noch nie.
Wir kriegen das hin."
Als ich das Buch weglege, merke ich, dass ich wohl schon die ganze Zeit geweint haben muss. Ich wünschte, ich hätte diese beiden Menschen noch gekannt.
Und ich wünsche mir, dass niemals wieder so etwas geschieht.
© "Tagebuch: Flucht aus Deutschland": Eine fast wahre Geschichte von Winfried Brumma (Pressenet), 2015. Bildnachweis (CC0, Public Domain Lizenz): Flucht (Illustration), Menschliches Auge und Kriegsszene.
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