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Im 30-jährigen Krieg zogen die Schweden vor die Reichsstadt Dinkelsbühl, um diese zu erobern, zu verheeren und zu plündern.
"Die Schweden kommen!", schrie der Wächter auf dem Turm mit sich überschlagender Stimme. Auch die anderen Wächter meldeten das Gleiche. Bislang waren sie verschont geblieben. Von den Gräueln eines schrecklichen Krieges, der schon viele Jahre durch Deutschland tobte, hatten sie nichts mitbekommen. Im übrigen Land wurde die Bevölkerung geschunden und geplagt. Ganze Dörfer wurden dem Erdboden gleich gemacht, Mädchen und Frauen übelst misshandelt und missbraucht. Was die plündernde, mordende Soldateska nicht schaffte, schafften Krankheiten wie die Pest. Niemand wusste, wie lange dieser Krieg noch dauern würde und die Menschen der damaligen Zeit waren sich sicher, dass das Weltende bald bevorstünde.
Dinkelsbühl war eine reiche Stadt. Einige der Einwohner Dinkelsbühls hasteten aufgeregt hin und her. In ihrer Panik waren sie nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Einige andere waren wie gelähmt. Der Bürgermeister berief die Stadträte ein, und sie beratschlagten – ohne zu einem Ergebnis zu kommen.
"Wir sind verloren. Die Schweden sind übermächtig. Wir werden unsere Stadt nicht verteidigen können", sagte der Bürgermeister.
"Ist es sicher, dass die Schweden unsere Stadt angreifen, erobern und verheeren wollen?", fragte einer hoffnungsvoll.
"Was meinst du, warum die vor unserer Stadtmauer aufmarschiert sind? So wie uns die Wächter auf den Wachtürmen gemeldet haben, haben sie einen Ring um unsere Stadt gelegt. Wir können nicht hinaus, um den Schweden feindlich gesonnene Soldaten um Hilfe zu bitten. Mal abgesehen davon: Dazu hätten wir keine Zeit mehr. Es ist zu spät", meinte der Bürgermeister sarkastisch.
"Was meinst du, was wir tun sollen?", fragte einer der Stadträte.
"Verteidigen können wir uns nicht und wenn wir unsere Stadt übergeben, können wir sicher annehmen, was unseren Frauen und Kindern blühen wird. Das möchte ich nicht ansehen müssen."
"Ich muss euch sagen, dass wir keine Chance mehr haben", meinte der Bürgermeister. "Es ist egal, was wir tun oder nicht tun. Unsere Lage ist aussichtslos!"
Betroffen schauten sich die Stadträte an. Sie wussten selbst, dass Dinkelsbühl den Weg aller anderen Städte und Dörfer, die in diesem Krieg zerstört worden waren, gehen würde.
In der Zwischenzeit war eine kleine Abordnung der Schweden auf dem Weg ins Stadtzentrum und verlangte in barschem Ton vor den Bürgermeister geführt zu werden. "Übergebt uns eure Stadt! Ihr wisst ganz genau, dass ihr keine andere Möglichkeit habt!", sagte der Anführer der Schweden.
"Und wenn wir uns weigern?", fragte einer der Stadträte.
Die Schweden starrten ihn hämisch grinsend an: "Ihr wisst doch ganz genau, dass ihr das nicht könnt. Wir werden eure Stadt erobern, ob ihr das wollt oder nicht. Es ist auch egal, ob ihr uns die Schlüssel zum Stadttor überreicht oder nicht. Aber es dürfte sich für euch vorteilhaft auswirken, wenn ihr uns die Schlüssel freiwillig übergebt."
Einige der Stadträte dachten wohl darüber nach, die Abordnung umzubringen. So als ob er die Gedanken der Stadträte gelesen hätte, meinte der Anführer grinsend: "Das werdet ihr nicht wagen, uns umzubringen. Wir geben euch noch eine Stunde Zeit, dann überreicht ihr unserem Kommandanten den Schlüssel zum Stadttor!"
"Wollt ihr unser Geld und Gut?", versuchte es der Bürgermeister. "Ihr könnt es haben, wenn ihr uns verschont!"
Der Anführer der Abordnung meinte barsch: "Genug geredet. Euer Geld und Gut nehmen wir uns sowieso. Übergebt uns eure Stadt!"
Die Panik war greifbar. Vor dem Rathaus warteten die Menschen darauf, was der Bürgermeister und die Stadträte ihnen wohl mitzuteilen hatten. Die Klügeren von ihnen wussten sehr schnell, dass die Lage Dinkelsbühls aussichtslos war.
Inzwischen hatte sich Lore, eine junge Frau aus Dinkelsbühl, auf die Stadtmauer begeben, um das Heerlager der Schweden zu übersehen. Sie grübelte hin und her. Währenddessen trat der Bürgermeister zu der atemlos schweigenden Menge und sagte ihnen: "Unsere Lage ist aussichtslos! Wir haben keinerlei Möglichkeiten, uns vor diesen Schweden zu schützen. Sie sind nicht davon abzubringen, unsere Stadt zu zerstören und uns und unsere Frauen und Kinder umzubringen."
Was jetzt? Die Dinkelsbühler waren verzweifelt.
Lore kehrte indessen zurück und trat vor den Bürgermeister: "Kann ich mit Dir und den Stadträten reden? Nach reiflicher Überlegung habe ich einen Plan. Es ist die einzige Möglichkeit, die wir noch haben, um uns zu retten."
Zusammen mit dem Bürgermeister und den Stadträten betrat sie das Rathaus.
"Nun, was hast du vor?", fragte der Bürgermeister mit trockener Stimme.
"Gebt mir alle Kinder des Ortes. Mit diesen möchte ich den Schweden entgegenziehen. Wir werden sie bitten, uns zu verschonen. Ich denke doch, dass sich der Kommandant der Schweden durch die Kinder erweichen lässt."
"Nein", keuchte einer der Stadträte, "das ist zu riskant. Meine Kinder bekommst du nicht!"
"Höre, ich weiß, dass es riskant ist, aber deine Kinder wirst du verlieren, wenn wir gar nichts unternehmen!", meinte Lore glühend. "Wie viel Zeit haben wir noch?"
"Keine halbe Stunde mehr", meinte der Bürgermeister lahm.
"Bitte, lasst es mich versuchen", bettelte Lore. "Es ist die einzige Möglichkeit, die wir noch haben. Wenn wir gar nichts machen, dann verlieren wir auf jeden Fall."
"Also gut, suche dir alle Kinder zusammen. Du weißt aber, was dir blüht, wenn dein Plan misslingt. Entweder die Schweden oder wir werden dich umbringen."
Lore hörte die letzten Worte schon gar nicht mehr, aber es dauerte doch noch eine Weile, bis sie die Kinder beisammen hatte. Viele Eltern waren sehr schwer zu überzeugen, dass das ihre einzige Chance war.
Die Frist von einer Stunde war schon fast vorbei. Die Schweden machten sich schon bereit und stellten sich in Kampfformation auf.
"Sieh mal", sagte ein schwedischer Söldner zu seinem Kommandanten. "Was ist das denn?"
Die Stadttore öffneten sich. Eine junge Frau mit Kindern zog vor die Stadt und auf das Schwedenlager zu. Singend und bittend, die Hände flehend zum Himmel erhoben, baten sie die Schweden um Gnade.
"Was hast du vor?", fragte einer der Söldner den Kommandanten. Der Söldner spürte, wie die Härte und die Zerstörungswut von seinem Kommandanten wich.
"Also ich kann das nicht. Diese Kinder haben mein Herz erweicht. Ich werde Dinkelsbühl verschonen!", gab der Kommandant zu verstehen.
Der Bürgermeister und die Stadträte standen auf der Stadtmauer und wussten nicht, was vor sich ging. Die Kinder mit Lore und den Schweden zogen friedlich vor die Stadtmauern.
"Was ihr Männer Dinkelsbühls nicht geschafft haben, das haben diese junge Frau und diese Kinder geschafft. Ich werde eure Stadt verschonen!", rief der Kommandant dem Bürgermeister und den Stadträten zu.
"Sie hat es tatsächlich geschafft!", jubelten diese.
Und auch die übrigen Bewohner Dinkelsbühls waren sehr zufrieden. Und Lore war Zeit ihres Lebens hoch geehrt.
Hintergrund: Die Reichsstadt Dinkelsbühl wurde im Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) achtmal besetzt, ohne jemals zerstört zu werden. Aus der Historisierung um die Sage von der Errettung der Stadt entwickelte sich aus zwei Schülerfeiern (1788 erstmals erwähnt, wobei katholische Kinder zunächst von den evangelischen getrennt auftraten) das heutige Heimatfest, die "Kinderzeche".
Sehr schöne Bildaufnahmen dieses Stadtfestes sind auf der Webseite von Hans-Rainer Preiss zu sehen: Kinderzeche: frei sein in Dinkelsbühl sowie Dinkelsbühl ist die schönste Altstadt Deutschlands.
Die Autorin: Ulla Schmid (*1955) interessierte sich erst im Jahre 2000 für das Schreiben. Nach einem Fernstudium bei der "Schule des Schreibens" begann sie 2004 mit einem Roman über die Varusschlacht, der 2006 veröffentlicht wurde. Weiterhin verfasst die Autorin Reiseberichte und Reiseanekdoten. Von Ulla Schmid finden Sie auf unserem Portal Kurzgeschichten, sowie mehrere Leseproben aus ihren Büchern, unter anderen aus "Die List des Arminius", "Irmhild, Tochter Ansgars" oder "Thumelicus".
Alle Bücher von Ulla Schmid auf ihrer Autorenseite
© "Die Sage von der Dinkelsbühler Kinderlore": Eine Interpretation der historischen Figur von Autorin Ulla Schmid, 04/2019. Die Abbildung zeigt "Die Kinderzeche in Dinkelsbühl", eine Zeichnung von Oscar Schäffer aus dem Jahre 1864 (dieses Werk ist gemeinfrei, weil seine urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist).
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