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27. Juni 2018: Die deutsche Fußballseele ist entsetzt und bedrückt. Zum ersten Mal, seit Fußballweltmeisterschaften ausgetragen werden, ist eine Vertretung Deutschlands schon in der Vorrunde ausgeschieden.
Es gibt immer wieder ein erstes Mal, auch für das Eintreten von Ungewolltem, nur für Märchenhelden nicht.
Niemand hatte mit diesem frühen Ausscheiden gerechnet. Ich selbst übrigens auch nicht. Es mag wohl an der Schockstarre liegen, dass sich der Unmut in Grenzen hält. In einem Leserbrief wurde den Akteuren bescheinigt, sie seien in den drei Spielen gar nicht richtig auf dem Platz gewesen. Der sehr mitgenommene, aber doch gefasste Bundestrainer sah eine Ursache des schrecklichen Ereignisses in einer gewissen Selbstherrlichkeit der Spieler, denen er vertraut hatte.
Es kommt immer wieder vor, dass eine Fußballmannschaft den Faden verliert. Die Hochleistungsträger sind bestimmt froh darüber, dass man nicht in ihre Seelen hineinblicken kann. Denkbar ist, dass Selbstherrlichkeit und Selbstüberhebung vor zwölf Jahren ihren Anfang nahmen.
Damals, 2006, hatte der inzwischen vielgeschmähte Franz Beckenbauer die Fußball-WM nach Deutschland geholt. Von der allgemeinen Freude darüber wollte die hohe Politik natürlich auch etwas abhaben. Der damalige Bundespräsident – wie hieß er noch? Ach, ja, Köhler! – beendete schon im Jahr 2005 eine Rede mit dem Satz: "Und nächstes Jahr werden wir Weltmeister!" Die Frau Kanzlerin wollte natürlich nicht zurückstehen und legte mit demselben Satz nach.
"Wenn man schon von einer Sache nichts versteht, sollte man wenigstens das Maul halten!", motzte ich darüber. Denn den Vorleistungen nach schickte der Deutsche Fußballbund damals seine Elite als Bauern ins Rasenschach.
Als das Turnier dann aber gut begann für die Deutschen, brandete Euphorie auf. Man glaubte nun an die große Chance. Unter anderem erfasste eine bisher noch nie dagewesene Fahnenseligkeit die Republik. Die deutschen Kicker wurden Hätschelobjekte der Medien. Dass ein deutscher Spieler das hässlichste Foul des ganzen Turniers begangen hatte, indem er dem argentinischen Torwart das Knie in die Rippen stieß, wurde vollkommen übergangen.
Ja, und dann leisteten sich die Italiener die Dreistigkeit, das Halbfinale gegen die Deutschen mit 2:0 zu gewinnen! Das wurde ihnen lange nicht verziehen.
Der dritte Platz der deutschen Elf war – gemessen an den Vorleistungen – ein Erfolg, über den man sich mit Recht hätte freuen können. Aber man hatte doch von der Weltmeisterschaft geträumt! Da machte dann auf einmal der Begriff "Weltmeister der Herzen" die Runde. Also war man doch der wahre Weltmeister. Dementsprechend ließen sich auch die Spieler feiern.
Ein Filmemacher hatte sich das Recht gesichert, im nahen Umfeld der DFB-Vertretung zu filmen. Was er dann zusammenschnitt, überschrieb er mit "Deutschland, ein Sommermärchen". Damit hatte er zwar nicht bei Heine abgekupfert, da er ja die Gegenjahreszeit ansprach. Wieweit aber die Bekanntheit des Titels "Deutschland, ein Wintermärchen" dem Film förderlich war, ist nicht abzuwägen, doch nun war das Wort "Märchen" im Spiel und wurde gehörig ausgeschlachtet. Da im Märchen die Helden ja Könige werden, stand auch durch dieses Wort im Raum, man sei doch "richtig" Weltmeister.
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Und als Held wurde jeder Spieler, der an dem Turnier teilgenommen hatte, in den Medien bezeichnet. So kam es zu solch amüsanten Schlagzeilen, wie: "Ist WM-Held O ... ein Drängler?"
Das Märchen oder seine Vorformen gibt es sicher schon seit Menschen einander erzählen. Vielleicht ist es deswegen so beliebt, weil es Erholung von der mühseligen Realität bietet. Dabei legt diese Gattung immer wieder Wert darauf, den Austritt aus der Realität klar anzuzeigen. Und zwar gleich zu Anfang: "Es war einmal", "Vor langer, langer Zeit", "Hinter einem großen tiefen Walde" mit solchen und ähnlichen Anfangsformeln wird der zeitliche und räumliche Abstand zur Realität klargestellt. Schlussformeln wie "und so lebten sie glücklich und zufrieden bis an ihr seliges Ende" oder "und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute" können den Hörer mit einem Gähnen in der Realität erwachen lassen. Jedenfalls den erwachsenen Hörer.
Wo Realität zum Märchen gemacht wird, müssen notwendigerweise Wahrnehmungen verzerrt werden. Erwünschtes und Angenehmes wird angeleuchtet und übersteigert. Was dazu nicht passt, schiebt man zumindest in den Hintergrund.
Was oft gesagt wird, wird zu immer größeren Teilen geglaubt. Im deutschen Fußball machte sich Euphorie breit. Zwar scheiterte man bei der EM 2008 und bei der WM 2010 jeweils an Spanien, aber 2010 wurde immerhin der dritte Platz von 2006 verteidigt.
Im Jahr 2011 fand das Turnier um die Damen-Fußballweltmeisterschaft in Deutschland statt. Dass man dieses Turnier "Sommermärchen Teil 2" nannte, zeugt meiner Ansicht nach entweder von Realitätsverlust oder Unverfrorenheit. Zumindest war es gegenüber den Damen, die beste Vorleistungen aufzuweisen hatten, eine Unverschämtheit. Sollten diese Spielerinnen, die als haushoher Favorit auf den Titel galten, denn nur Dritte werden dürfen? Wohl sicher nicht, wenn es der Name auch nahelegte. Aber gedacht war es wohl so: Wenn die Damen unter diesem Namen ihren sicheren Titel geholt haben würden, wäre der Begriff "Sommermärchen" noch enger mit "Weltmeister" verbunden. Während des Turniers waren auch solche Formulierungen wie "Sommermärchen reloaded" zu hören.
Auch in die Köpfe der damaligen Nationalspielerinnen kann man nicht hineinsehen. Sie fanden im Turnier nie zu ihrer bis dahin gezeigten Spielstärke. Hinderte sie vielleicht die Wahrnehmung des Druckes, der auf ihnen lastete, oder hatte auch sie der Märchenbazillus angekränkelt mit Gedanken wie: "Wir sind es ja, was soll uns passieren?"
Dass die Männer bei der EM 2012 bis ins Halbfinale kamen, hielt die Euphorie aufrecht und schuf wohl auch die Basis für den Gewinn der Weltmeisterschaft 2014. Man mag da von Glück reden, so viel man will. Glück und Pech gehören im Leben dazu und beim Spiel erst recht. Und beim Fußball zählen nun einmal die Tore. Ein Tor im Endspiel und keines bekommen, also Weltmeister.
Ja, besonders glanzvoll war es auch nicht. Aber trotzdem wurde gleich nach dem Titelgewinn schon von der Titelverteidigung geredet. Vielleicht zu viel.
Von wem der Spruch: "Spiele werden in den Köpfen verloren", stammt, weiß ich nicht mehr. Bestimmt ist da gemeint, dass man sich in eine Niederlage hineindenken kann. Ich halte es für ebenso schädlich, eine Niederlage nicht in Betracht zu ziehen. Nach dem schon erwähnten Muster "Wir sind es ja, was soll uns passieren?". So wirkten die deutschen Spieler auf mich, als es 1:0 für Mexiko stand und auch bei der Niederlage gegen Südkorea. Da war kein Bemühen zu sehen, über sich selbst hinauszuwachsen.
Ein Spieler erzählte hinterher, auch als in der Nachspielzeit das Führungstor für die Koreaner gefallen war, hätte die deutsche Mannschaft noch an den Sieg geglaubt. In 90 Minuten kein Tor erzielt und dann zwei in drei bis vier Minuten?
Derselbe Spieler sagte auch, das letzte gute Spiel hätte die deutsche Mannschaft im Jahr 2017 auf den Rasen gebracht. Hätten da nicht vor dem Turnier schon die Alarmglocken schrillen müssen? Was war da los mit der Wahrnehmung bei Spielern und Betreuerstab?
Auch aus Unangenehmem, das einem zustößt, kann man Vorteile ziehen, wenn man richtig denkt.
Und für die Freunde des deutschen Fußballs wäre es sicher eine Freude, wenn das frühe Ausscheiden die Akteure von der Märchenwiese auf den Kampf- und Leidensacker zurückführen würde.
© "Ein Fußballfeld ist keine Märchenwiese": Essay von Friedrich Treber, 06/2018. Bildnachweis: Fußball-WM Fußballfeld, CC0 (Public Domain Lizenz).
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