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Jens ist fünfzehn und meistens ein netter Kerl. Er will die Mittlere Reife machen und hat bislang einen guten Notendurchschnitt. Kumpels hat er auch eine Menge und zwei beste Freunde zusätzlich, ganz wie sich das gehört. Und Jens, Sven und Hassan sind ein typisches Dreierpack, wie man sie auf jedem Schulhof sehen kann.
Die drei hängen zusammen ab, liefern sich Gameduelle, borgen einander die neuesten Xbox-Spiele, und versuchen ihre Eltern zum Wahnsinn zu bringen. Jens kommt mit seinen allerdings gut klar – dafür, dass sie Eltern sind, haben sie einiges auf dem Kasten. Sein Vater verliert meist nur knapp beim abendlichen Zocken an der Box und ist eigentlich richtig fortschrittlich.
Die Nachmittage werden oft bei irgendeiner der drei Familien verbracht – jedenfalls solange, bis das Trio verscheucht wird oder vor kleinen Schwestern flüchtet. Alle kommen bestens miteinander klar und die Mütter von Jens, Sven und Hassan kennen sich vom Einkaufen im Supermarkt und halten meist ein Schwätzchen, wenn sie sich begegnen.
Dieser wohlgeordnete Alltag wird auf sonderbare Weise unterbrochen, als ein neuer Schüler in die Klasse kommt. Patrick ist älter als die meisten anderen in der Klasse, er fällt richtig auf. Denn Patrick trägt etwas auf dem Kopf, das man früher "Bürstenschnitt" nannte, und an den Füßen trägt er geschnürte Stiefel, obwohl doch Sommer ist.
Er ist völlig anders und hochinteressant, irgendwie kerlig und schon richtig erwachsen. Und nach kurzer Zeit will jeder sein Freund sein. Fast jeder, denn Hassan, Ali, Yuss und Shayan übersieht er. Die Eltern von Jens wundern sich, dass nicht mehr Hassan, sondern Patrick das dritte Blättchen des Kleeblattes bildet und fragen sachte nach – Jens meint, Hassan hätte viel zu tun, und überhaupt ...
Beim abendlichen Duell fallen Paps einige sonderbare Spiele auf – solche, die er bei seinem Sohn noch nie gesehen hat. Luftkampf über Deutschland und so in der Art. Grützlangweilige Sache eigentlich und vor allem nichts, das Paps gerne sieht. Jens meint, das sei schließlich Geschichte und man sollte Bescheid darüber wissen. Jungs haben ebenso viele Kicheranfälle wie Mädchen, sie halten sogar länger durch – und Jens' Mom, die sich fragt, ob die drei vielleicht Lachgas inhaliert haben, will gerade nachfragen, was soooo lustig ist, als sie einen ziemlich dummen Witz hört, über den sich die Jungs fast totlachen wollen. Einer von der Art, der ihr ganz und gar nicht gefällt – Hassan hätte er noch weniger gefallen.
Am Abend bringt Vater als Überraschung für die Familie Döner, mit von Jens' bevorzugtem Imbiss, als dieser die Eltern erschüttert und sich weigert, so etwas zu essen. Seinen Eltern erklärt er, dass er das Zeug nicht mehr anrühren wird. Es gibt schließlich genug richtiges deutsches Essen, und "Döner fressen" bedeutet, dass man seine Identität verliert. In deutschen Familien, so sagt Jens, sollte es so etwas nicht geben. Er wolle jetzt deutsch leben, denn das sei schließlich seine Pflicht. Bevor er auf die Idee kommt, zu salutieren, verlassen die Eltern das Wohnzimmer und beraten. Dann macht Mutti Spiegeleier mit Speck für Jens, der das begeistert aufnimmt.
Zwei Tage später hat Jens Geburtstag. Die Eltern haben eine Überraschung für ihn, sagen sie. Sie wollen zu Oma aufs Land und dort einen richtig deutschen Tag mit Jens feiern. Der ist begeistert, denn erstens ist es bei Oma toll, und seine Eltern haben den neuen Jens akzeptiert. Er fühlt sich richtig gut – besser jedenfalls, als in der Schule, wenn er Hassan irgendwie ausweichen muss, der ihn traurig ansieht, ihn aber nie anspricht, weil Patrick immer in der Nähe ist und immer ziemlich aasige Sprüche von sich gibt. Jens hat ein schlechtes Gewissen, aber von Patrick weiß er, dass ein Mann da durch muss.
Abends kommen sie bei Oma an und gehen alle ziemlich früh zu Bett, weil sie müde von der langen Fahrt sind. Jens freut sich auf den nächsten Tag, weil das sein Geburtstag ist und sein Vater ihm eine große Überraschung versprochen hat: Einen deutschen Tag.
Jens wird ziemlich früh wach und geht noch im Schlafanzug nach unten. In Omas gemütlicher Küche sitzen alle schon am Frühstückstisch und warten. Jens freut sich auf seinen Becher mit heißer Schokolade, den Oma immer macht, wenn er da ist. Deshalb verstört ihn die sonderbar riechende Flüssigkeit in seinem Becher einigermaßen. Auf seinen fragenden Blick hin meint Mama leichthin: Huflattichtee. Kräutertee aus deutschen Landen. Schokolade kommt aus Südamerika und ist für einen deutschen Geburtstag wohl nicht so passend. Heute trinkt das die ganze Familie, denn Kaffee kommt aus derselben Gegend wie Kakao.
Irgendwie hat Jens so eine Ahnung, dass dieser Tag ein wenig anders ablaufen wird, als er sich das vorgestellt hat. Als er nach dem Zucker fragt, um diese fürchterliche Brühe trinkbar zu machen, schiebt Oma ihm mit sonnigem Lächeln den Honigtopf hin, Zucker kommt schließlich nicht aus Deutschland – ursprünglich jedenfalls nicht. Honig gab es allerdings. Jens hasst Honig. Als er höflich nach seiner Lieblingsmarmelade fragt, meint sein Vater bedauernd, dass Kirschen eigentlich nicht aus Deutschland stammen, sondern aus dem warmen Süden. Die Römer haben sie hier kultiviert – das trifft eigentlich auf die meisten Obstsorten zu.
Dann nimmt Mutti das Deckelchen von der Müslischüssel und schiebt es Jens zu, der die Pampe darin misstrauisch beäugt. Das ist etwas ganz leckeres, erklärt man ihm dann. Hirsebrei machte schon die alten Germanen stark und unbezwingbar. Und somit gäbe es wohl kein "deutscheres" Frühstück, meint Oma. Viel frühstückt Jens nicht, lieber will er sich anziehen. Seine Hose findet er nicht, auf dem Sessel liegt eine sonderbare Buxe aus so einer Art grobem Wollstoff. Als er mit dem Teil in der Hand nach seiner Jeans fragt, ruft er gespieltes Entsetzen hervor.
Jeans sind ziemlich undeutsch, erfunden von einem jüdischen Händler und hergestellt für die Goldsucher in Amerika, seien die ja nun nicht gerade passend für heute. Opa ist übrigens gleich ganz früh aus dem Haus gegangen, wie Jens erfährt. Der ist mit dem Nachbarn zum Angeln, weil in der deutschen Zone heute Rauchverbot herrscht – Tabak kommt schließlich aus Amerika. Und da Jens weiß, das Kartoffeln dieselbe Heimat haben, glaubt er nicht mehr an die leckeren Pommes, auf die sich Oma so gut versteht. Aber das macht nichts, irgendwie ist ihm der Appetit sowieso vergangen.
Als er fragt, was heute so auf dem Programm steht, überlegen alle zusammen. Kino geht gar nicht – die ganze Angelegenheit ist eine Erfindung zweier französischer Brüder. Man müsste in die Kreisstadt fahren, aber das darf man. Automobile stammen aus Deutschland. Sein Vorschlag, Eis essen zu gehen geht in einem Sturm der Entrüstung unter. Lesen darf man auch – wieso, weiß er noch aus der Hauptschule.
Beim Mittagessen, das aus Braten, Käse – und Dickmilch als Nachtisch – besteht (Joghurt kommt aus Asien), wünscht er sich nur noch, dass dieser Tag bald zu Ende geht. Außerdem juckt diese Hose. Das Leinenhemd und die Schuhe aus Opas Bestand jucken zwar nicht, aber er ist froh, dass ihn niemand aus seiner Klasse sehen kann. Turnschuhe und T-Shirt sind ... er kann es nicht mehr hören. Das Abendbrot verweigert Jens, der Kanten Käse und dieses seeehr körnige Brot sind nicht nach seinem Geschmack. Den Salat aus Kräutern, von denen er nicht mal den Namen kennt, hat er nicht probiert.
Tomaten gab es natürlich auch keine, denn die kommen auch anderswo her. Als Jens im Bett liegt und mit Heulen fertig ist, kommt ihm dann doch die Erleuchtung. Das Geschenk seiner Familie an diesem Tag ist das wertvollste und wichtigste, das er je bekommen hat. Der Junge in dem schmalen Bett macht in dieser Nacht einen gewaltigen Schritt in Richtung Erwachsen werden.
Und als er am Montag vor der Schule Patrick sieht, winkt er ihm lässig zu, geht an ihm vorbei und legt dann dem überraschten und erfreuten Hassan den Arm um die Schulter. Es gibt da nämlich noch eine offene Revanche in Sachen Xbox.
© "Ein richtig deutscher Tag | Erwachsen werden": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2010. Bildnachweis: Reichstag Berlin, CC0 (Public Domain Lizenz).
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