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Der Herausgeber Michael Schmidt präsentiert mit "Scherben" den vierten Band der beliebten Fantasyguide-Reihe. Zur Erinnerung: Aus dem phantastischen Nachfolgeband "Schiff der Spione" durften wir vor kurzem ebenfalls eine Leseprobe veröffentlichen.
In 16 spannenden Geschichten machen die Leser und Leserinnen eine aufregende Reise durch die phantastischen Welten der Science Fiction, der Fantasy und des Horrors. Von Ralf Steinberg, dem Chefredakteur des Fantasyguides, präsentieren wir nachfolgend mehrere Textausschnitte aus seiner Saramee-Fantasy-Geschichte "Rinnsale".
Der Wetahkrug zerbrach mit einem hässlichen Knirschen in der Hand des Mannes. Durch die dicken Handschuhe spürte er weder die Scherben noch die Feuchtigkeit des billigen Gebräus. Er musste Tränen wegblinzeln, bevor er sich die Trümmer in seiner Faust ansehen konnte. Doch es drang kein anderes Bild zu ihm vor, als das Gesicht seiner Tochter. Drei Monde hatten ihren Lauf bereits wiederholt, seit der Schlächter sie ihm aus der Wohnung gerissen hatte. Aus seinem Leben, aus seinem Herzen. ...
"Nein!", brüllte der große Mann, sprang auf und warf dabei den plumpen Wirtshausstuhl um. Nicht aus seinem Herzen! Denn genau dort spürte er sein kleines Mädchen. Er musste sie finden, durfte nicht aufgeben. Mit einem weiteren Schrei stürmte er ins Freie.
"Hey, der Blauschärpler hat die Zeche geprellt und auch noch randaliert! Dürfen die jetzt alles?", beschwerte sich ein bulliger Matrose und schlug seine wettergegerbte Handfläche auf den Tresen. Becher klirrten und eine klebrige Pfütze bildete zähe Kreise.
"Lass ihn. Das ist Abal. Der Schlächter hat seine Frau getötet und die Tochter entführt. So ein nettes Mädchen ..." Trog goss dem Seemann etwas in den klobigen Krug, den der anklagend Richtung Tür ausstreckte.
"Der sucht nun schon so lange nach ihr. Ich sag dir, das arme Ding ist tot. Und Abal ist auch nicht mehr weit weg davon. Sowas sollte kein Vater mitmachen müssen ..." Kopfschüttelnd wandte sich der alte Wirt ab.
Der Matrose ließ den Krug sinken und spuckte in den Staub der Spelunke. "Ach was, dieses ganze verdammte Leben in dieser elendigen Stadt sollte niemand mitmachen müssen!" Mit einem weiteren Fluch setzte er sich in eine dunkle Ecke und trank gegen das üble Schicksal an, das ihn in Saramee festhielt. ...
Mit einem trockenen Knirschen schabten zwei Mandibeln übereinander. Der von eleganten Vorhängen rot eingefärbte Sonnenschein überzog das schwarze Chitin mit einem Flammenmuster und gab den sorgfältigen Bewegungen den Eindruck ganz besonderer Geschmeidigkeit. Obwohl der Leib dem einer Spinne glich, ragte über einem dünnen Halssegment ein dreieckiger Schädel empor. Ein Kopffühler strich über zwei große Facettenaugen und entfernte dabei mit den kleinen Härchen den Schmutz einer blutigen Mahlzeit. Es blieb nicht viel übrig, wenn sie aß.
Das Geheimnis ihrer Maskerade verbarg sich in einem kleinen Tiegel, den sie behutsam aus einer Tasche fischte. Wenige Tropfen genügten, um die zweite Haut elastisch werden zu lassen. Dann streifte sie sich das menschliche Aussehen über und verwandelte sich in eine gereifte Frau, der man kaum die Last ihrer Jahre ansah. Die Hülle war perfekt gearbeitet und wo es zu Abnutzungen kam, half das Elixier. Als sich die letzten Risse ohne sichtbare Spuren zu hinterlassen geschlossen hatten, begann die Kraft der Flüssigkeit, die Haut sanft zu röten. Die Augäpfel klarten auf und bekamen einen leicht hypnotischen Glanz, zierliche Hände prüften den Körper und zufrieden mit sich angelte die Waisenmutter ihre Kleidung zusammen. Die zunächst eckigen Bewegungen wurden schnell weicher und als sie die letzten Knöpfe schloss, strahlte die gesamte Erscheinung wieder die gewohnte, verführerische Anmut aus.
"Woher beziehst du die Salbe, Mutter?", flüsterte eine Stimme hinter ihr.
Gerade noch gelang es Viona Makanar, nicht erschreckt herumzufahren.
"Pinca!" Betont langsam drehte sie sich um und fixierte das rothaarige Mädchen. Das Licht aus den Fenstern blendete es, dennoch versuchte es eisern, den Blick ihrer Ziehmutter zu erwidern. Als Viona langsam auf Pinca zuschritt, trat sie zwischen das Licht und das Mädchen. Pinca sah den Schatten mit der Sonnenaura auf sich zukommen und sie spürte die Drohung im gemessenen Gang, in der steifen Haltung und der Silhouette angewinkelter Arme. Doch da war keine Angst in ihr. Nicht mehr. Und so trat sie einen plötzlichen Schritt auf die Waisenmutter zu.
Nur ein Aufzischen erklang. Dann fuhr Vionas Rechte in das Gesicht des Mädchens, die instinktiv zuckte. Doch Viona strich nur über die Wange.
"Es wird dir daran nicht fehlen." Sie setzte ihren Weg fort, sodass Pinca beiseitetreten musste. Das Sonnenlicht schlug ihr sofort schmerzend in die Augen.
Schon im Türrahmen hauchte Viona: "Braves Mädchen!"
Pinca drehte ihren Kopf und blickte in den dunklen Flur, wo ihre Ziehmutter lautlos in der Dunkelheit verschwand. Die Geräusche des Waisenhauses kehrten zurück. Das Tollen der Kleinsten im Innenhof, das aufgesetzte Lachen von Berla, die so viel auf ihr helles Haar gab, das brummende Säuseln der großen Jungs in der Küche. ...
Nein! Sie schüttelte den Kopf. Ein braves Mädchen konnte sie sich wirklich nicht mehr nennen. Das ganze weiche Fleisch hing an ihr wie eine viel zu schwere Last. Verächtlich pustete sie über die feinen Härchen an ihren Oberarmen. Betrachtete die sich erhebenden Poren. Balays Atem hatte das vermocht. Sein Blick, seine Hände.
Aber jetzt empfand Pinca keine Wärme in ihrem Unterleib. Auch das Kribbeln bis in die Haarwurzeln verwehte als eine ferne Erinnerung. Diese fremde Hülle eines jungen Mädchens wurde zu eng für sie und dieses Gefühl betraf nicht nur den stärker werdenden Drang nach der Salbe. Vielmehr erkannte Pinca, dass sie wirklich etwas anderes geworden war. Eine Frau?
"Nicht in diesem Sinne", dachte sie. Und nun regte sich doch etwas in ihrem Unterleib. Ein tödlicher Stachel – und sie erkannte mit einer plötzlich auf sie einstürzenden Gewissheit, dass diese Erregung nur auf eine einzige Weise zu befriedigen war.
Vorsichtig setzte sie ihre Füße einen vor den anderen. Die schwielige Haut spürte kaum etwas von den alten Dielen und den feinen Sandkörnern darauf. Dreck, den sie hätte wegfegen müssen. Zugleich war es eine Schicht Leben. Sie roch die Partikel unzähliger Häute. Haare kräuselten sich in den Ritzen des Holzes. Bogen sich mit den Krümmungen der Maserung, festgetreten oder hineingeweht. Uralte Rückstände all der Kinder, die hier ein und aus gingen. Aber Pinca nahm auch die würzigen Spuren der anderen wahr. Diebe, Bettler, gierige Typen, die sie hier in das Zimmer ihrer Mutter gelockt hatte. Ihr Blut trocknete tief in den Poren des hölzernen Bodens. Und es sang eine Melodie der Verlockung. Es strömte durch die heiße Abendluft in die Nase des Mädchens, drang durch die fremde Haut bis in die Tracheen darunter. Der Schauer kräuselte sich von innen nach außen. Als Pinca das Zimmer verließ, strich sie mit den Fingern über den Rahmen der Tür.
Es schien ihr wie ein Abschied von einem Freund. Sie blickte zurück und diesmal konnte sie die stechende Sonne schmerzlos ertragen. Das dunkel duftende Gemach von Viona Makanar bot sich den kalten Augen mit ganzer Hingabe dar. Bot sich ihr an. Es war ein Reich, ein Heim, ein Hort. Ihr Hort.
Pinca löste sich aus der Erstarrung und folgte den schwindenden Spuren, die das Parfüm ihrer Mutter durch den fettigen Brodem Saramees legte. ...
"Scherben", der vierte Band der Fantasyguide-Reihe, zeigt wieder einmal die ganze Bandbreite phantastischer Literatur. Die Taschenbuch-Ausgabe umfasst 306 Seiten und wurde Ende Juli 2018 von Herausgeber Michael Schmidt veröffentlicht (ISBN 978-1723214431). Diesen phantastischen Band gibt es auch als E-Book im Online-Buchhandel.
Die Autoren im Fantasyguide "Scherben" und ihre Beiträge:
Achim Hildebrand – Zeit ist Gold
C.M. Dyrnberg – Die Gewächskirche
Peter Nathschläger – Das Heerlager der Toten
Matthias Ramtke – Kein Mittelweg
Andreas Flögel – Katzen in U-Tortuga
Nina Horvath – Bahnfahrt in die Ewigkeit
Diane Dirt – Tod eines Wechselbalgs
Michael Schmidt – Sommer der Liebe
Ralf Steinberg – Rinnsale
Merlin Thomas – Vox Pobuli
Christel Scheja – Ein Schwert zu schmieden
Sascha Dinse – Scherben
Uwe Hermann – Der Geschichtenzähler
Ralf Kor – Die Messias-Maschine
Detlef Klewer – Herofluenza
Ray Bradbury und Forrest J. Ackerman – Die Schallplatte (übersetzt von Sebastian Rudolph)
Detlef Klewer entwarf das beachtenswerte Titelbild, das für den Vincent Preis und den Kurd Laßwitz Preis nominiert wurde.
Noch mehr phantastische Literatur lesen: Zwielicht 13: Der Mönch und die Pest | Zwielicht Classik 14: Onkel Herberts große Stunde
© Fantasy Leseprobe: Ralf Steinberg und "Rinnsale". Dem Herausgeber Michael Schmidt sowie den beteiligten AutorInnen danken wir herzlich für die Textauswahl aus dem Fantasyguide "Scherben" sowie die Abbildung des Buchcovers, 01/2020.
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