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Die Klassiker kommen immer wieder einmal ins Gerede – soll heißen, dass man sie tatsächlich über viele Jahre hindurch bemühen kann. Das muss so sein, denn das zeichnet sie ja aus, diese unvergänglichen Werke der großen Geister. Zwar hat ihn bis jetzt noch niemand genannt, aber Gotthold Ephraim Lessings Stück "Nathan der Weise" könnte tatsächlich in den heutigen Tagen uraufgeführt werden.
Das Werk kreist im Wesentlichen um einen Juden, der in einer Atmosphäre der Intoleranz seinem Volk gegenüber lebt. Dieser Mann nun, Nathan, sieht sich selber zwar nicht als religiösen Menschen – doch toleriert er die Haltung seiner Mitmenschen, wie immer sie auch ist. Um sich zu erklären und eine schwierige Klippe zu umschiffen, in die er gebracht wird, erzählt er die Ringparabel – die Geschichte eines Mannes, der ein Familienerbstück weiterzugeben hat. Es handelt sich um einen Ring, und zwar um einen magischen. Der Zauber, der dem Kleinod innewohnt, macht den Träger zu einer angenehmen Person, zu einer, die von Gott und den Menschen gleicherweise geschätzt wird.
Rollenspielfans würden sagen: das Item erhöht den Charismawert des Helden. Wie auch immer, der zukünftige Erblasser sieht sich in einer schwierigen Situation, denn das Erbstück wurde immer dem am meisten geliebten Sohn vermacht. Der Mann hat aber drei Söhne und möchte keinen derartig vorziehen, was eine löbliche Haltung ist. So verfällt der gewitzte Vater auf die Idee, Duplikate des Ringes anfertigen zu lassen. Jedem Sohn gibt er nun einen der Ringe und versichert, dass es sich um den echten handelt.
Der schlaue Vater setzt hier auf den Placebo-Effekt, und wenn es ein Märchen wäre, würde sich jeder der drei Söhne zu einem angenehmen und ehrenhaften Menschen entwickeln, da er an die Magie des Ringes glaubt. In der Parabel, wie Lessing sie interpretiert (es gibt auch eine Geschichte dieses alten Stoffes von Boccaccio), ziehen die Brüder allerdings vor Gericht, um die Sache zu klären. Der Richter meint letztendlich, man solle beobachten, ob eine Wirkung, wie sie dem Ring zugesprochen sei, in irgendeiner Weise beobachtet werden konnte. Wenn nicht, könnte es sein, dass das echte Erbstück schon lange verloren gegangen sei. Es läuft nach einigem Hin und Her wieder auf die Placebowirkung hinaus. Denn es wird keine Lösung gefunden.
Die Geschichte ist allgemein bekannt, und ebenso bekannt ist, dass die Ringparabel sich auf die "großen" Religionen bezieht: Islam, Christentum, Judentum. Jede predigt Wahrheit, jede sieht sich als alleinigen Hüter des göttlichen Vermächtnisses und hat nicht unbedingt viel übrig für die Konkurrenzunternehmen. Hinduismus und Buddhismus werden bei der Geschichte nicht berücksichtigt – aber man kann sie getrost mit einbinden. Sie gelten zwar als weit weniger aggressiv als Islam oder Christentum, ihre Anhänger sind allerdings ebenso zahlreich. Wenn man jetzt noch in Betracht zieht, dass es praktisch keine einheitliche Lehre gibt – in dem Sinne, dass sich die jeweiligen Anhänger in allen Dingen einig sind – wird klar, dass von Toleranz Andersgläubigen gegenüber keine Rede sein kann.
Bekannterweise gibt es bei jeder Fraktion unzählige Splittergruppen, Sekten und andere Abweichler, die sich untereinander spinnefeind sind. Im Mittelalter beriefen sich Katholiken und Lutheraner auf denselben Gott und sogar auf dieselbe Schrift – und bekämpften sich blutigst. Es war wohl eine Frage der Übersetzung oder Auslegung derselben. Die Tempelpatriarchen der Juden verzettelten sich ebenso wie die Konzile der Christen in tausenden von Nebensächlichkeiten und fruchtlosen Diskussionen. Innerhalb des Islams gibt es verschiedene Strömungen, die sich gegenseitig nicht tolerieren, und das gilt auch für viele andere etablierte Religionen. Mittlerweile ist in England der Druidische Glaube wieder als Religion anerkannt, und die Wicca sind schon lange eine Größe in Europa.
Viele so genannte Sekten können ein explodierendes Wachstum verzeichnen, so ist die Scientology Sekte ein Mitbewerber im Rennen geworden, der nicht unterschätzt werden darf. Der einstige Begründer, L. Ron Hubbard, war eigentlich Science-Fiction-Autor gewesen, bis er sich entschloss, richtig viel Geld zu verdienen. Seine eher krude Mischung aus Sci-Fi und Religion brachte ihm und seinen Nachfolgern Milliarden ein.
Die in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts sehr präsente "Kinder Gottes"-Bewegung hatte ebenfalls großen Zulauf, obwohl der Gründer David Berg sich nicht als etwas anderes darstellte als er war: ein sexbesessener Despot mit absoluten Machtansprüchen. Das gleiche gilt für die immer noch sehr rührige Hare-Krishna-Bewegung, die ihre Rekruten durch strengste Disziplinierung und perfide psychologische Mittel formt.
Es geht hier wie auch sonst bei Sekten um Macht und Geld – sonst um nichts. Ein findiger Kopf mit charismatischer Ausstrahlung kann sich eine Religion recht effektiv zusammenschustern und seine Anhänger halten. Es ist nichts anderes als Star und Fangemeinde – nur sehr viel tiefgreifender. Die herrschenden Religionen sind ein Kind ihrer Entstehungszeit, sie tauchten auf, griffen und konnten sich halten durch Organisation, Strukturierung, die Macht des Reichtums und nicht selten durch Unterdrückung und Blut. Anders kann die Fixierung auf zuweilen hanebüchene Rituale und Dogmen nicht erklärt werden.
Ob es nun um Kleiderordnung, verordnete Fastentage oder Vorschriften geht, die in starker Weise in den Alltag eingreifen, oder um offen sichtbare Klüfte zwischen Lehre und Verhalten der Lehrer: Ratlos fragt man sich, wieso diese Dinge es wert sind, dass ihretwegen Menschen geknechtet, gequält und sogar getötet werden, oder zumindest ausgebeutet und in völliger Verwirrung gehalten.
Die Zeit der Glaubenskriege sollte eigentlich vorbei sein und andere Dinge in den Vordergrund treten. Religion bedeutet eigentlich so etwas wie "zurückbinden", also eine Verbindung zum spirituellen Leben suchen. Das hat etwas mit "Ursprung" zu tun, nicht aber mit Macht oder äußeren Dingen. Wie ein Mensch das halten will, sollte seine eigene Sache sein – ebenso, ob er eine Gemeinschaft sucht oder einer solchen nicht bedarf. Aber mit Sicherheit darf "Religion" nicht übergreifend auf Staat und Politik wirken. Sie hat da nichts verloren.
Die Tatsache, dass in diesem neuen Jahrtausend die Staaten und Völker wegen Schleiern, Kruzifixen oder sonstigen Symbolen die menschliche Gemeinschaft in Gefahr bringen, zeigt, dass der Plan "Weiterentwicklung" der Menschheit im Ganzen wohl gescheitert ist. Im übertragenen Sinne könnte man sagen: die Erben der Ringe wollen nicht nur, dass der ihre der echte ist – sie tolerieren nicht einmal, dass die anderen auch einen haben, selbst nicht, wenn der gefälscht ist.
Lesen Sie zum Thema Religion auch: Eine Frage der Zuordnung? Gedanken zur Rede von Christian Wulff
© "Die Herren der Ringe – Religionen und deren Wahrheit": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2010.
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