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Die achte Ausgabe des Horrormagazins "Zwielicht" enthält eine sehr feine Sammlung von Kurzgeschichten und Textbeiträgen zu modernen und klassischen Themen der Genres Horror und unheimliche Phantastik.
Wir freuen uns sehr, einen Textausschnitt aus Ken Lius Horror-Kurzgeschichte "Laufschuhe" veröffentlichen zu dürfen: Die junge Arbeiterin Giang ist in einem asiatischen Ausbeuterbetrieb beschäftigt, dort stellt sie an einem Fließband Laufschuhe her. Als das Undenkbare geschieht, sieht Giang eine andere Welt als die, die sie kennt. Diese Geschichte des magischen Realismus von Ken Liu regt auch zum Nachdenken über unsere Konsumgesellschaft und über Ausbeutung an.
Als 410-seitiges Taschenbuch ist "Zwielicht 8" beim Verlag Saphir im Stahl erschienen (ISBN 978-3943948639), sowie als E-Book beim vss verlag Hermann Schladt.
"Du erfüllst deine Quote schon wieder nicht!", schrie Vorarbeiter Vuong. "Warum bist du so langsam?"
Das Gesicht der vierzehnjährigen Giang errötete vor Scham. Sie starrte auf den verschwitzten Hals des Vorarbeiters, an dem die Adern hervortraten wie fette Nacktschnecken auf einer reifen Tomate und pulsierten. Sie hasste Vuong sogar mehr, als sie die taiwanesischen Besitzer und Manager der Schuhfabrik hasste. Dass die Ausländer die Vietnamesen schlecht behandelten, war nichts Neues, aber Vuong kam von hier, aus dem Yên-Châu-Distrikt.
"Sechzehn Stunden ist eine lange Schicht", murmelte Giang. Sie senkte ihren Blick. "Ich werde müde."
"Du bist faul!", sagte Vuong und spie einen Schwall an Flüchen hinterher.
Giang zuckte zusammen, da sie mit einem Hagel von Hieben und Schlägen rechnete. Sie gab sich krampfhaft Mühe, reumütig zu wirken.
Vuong musterte sie, seine Lippen verzogen sich zu einem grausamen Lächeln. "Ich muss dich bestrafen, damit du stärker wirst. Du rennst jetzt fünf Runden um die Fabrik, und zwar unverzüglich, und wirst heute Abend so lange bleiben, bis du deine Quote erfüllt hast."
Giang war dankbar dafür. Es war ein heißer und schwüler Tag, aber verglichen mit einer Tracht Prügel stellte Rennen eine milde Bestrafung dar. Außerdem gab es ihr die Möglichkeit, sich ein bisschen länger außerhalb der Fabrik aufzuhalten, wo der dröhnende Lärm niemals aufhörte, und wo ihr die großen Maschinen mit ihrer rohen und gleichgültigen Kraft Angst einjagten.
Die erste Runde um das Gelände war einfach. Ihre blanken Füße federten leicht und rhythmisch von der verdichteten Erde ab. "Schneller!", brüllte Vuong, als sie an ihm vorbeirannte.
Obwohl Giang in einer Schuhfabrik arbeitete, zog sie es vor, so oft es ging barfuß zu laufen; so wie früher, als ihre Familie noch auf dem Land gelebt hatte. Damals hatte sie es geliebt, über die weichen Schlammpfade neben den Reisfeldern zu rennen, mit ihren Zehen in der Erde zu wackeln und sich auf ein bánh rán zu freuen – ein süßes, frittiertes Reisbällchen, das ihr Vater manchmal am Monatsende für sie kaufte.
Aber dann hatte sich ihr Vater entschlossen, in die Stadt zu ziehen, da er dachte, dass er dort als Arbeiter mehr Geld verdienen und seiner Familie ein besseres Leben bieten könnte. Hier war die Luft stickig, die Zimmer überfüllt und die Straßen voller Glasscherben und Nägel, weshalb sie billige Plastiksandalen tragen musste.
Mitte der zweiten Runde wurde ihr zunehmend schwindelig. Es fühlte sich an, als würde sie unter Wasser atmen. Ihr Hemd klebte an ihrer Haut und vor ihren Augen tanzten schwarze Punkte. Ihre Lunge und ihre Waden brannten.
"Schneller! Komm in die Gänge, sonst wirst du eine Extrarunde rennen."
Giang wünschte sich, sie könnte von Vuong und der Fabrik fortlaufen. Sie malte sich aus, die Schuhe zu tragen, die sie herstellte: Turnschuhe, die sich luftig leicht anfühlten, aber so stark wie Stahlkappenstiefel waren. Sie fand das bewundernswert und dachte oft daran, dass ihre Füße mit solchen Schuhen selbst vor dem rauesten Untergrund geschützt wären, doch sie konnte sie sich natürlich nicht leisten.
Laufen fühlt sich in ihnen bestimmt wie Fliegen an, überlegte sie. Wäre es nicht schön, den ganzen Weg hinauf in den Himmel zu rennen und Freundschaft mit den Vögeln zu schließen? ...
Der US-amerikanische Science-Fiction-Autor Ken Liu wurde in Lanzhou (China) geboren. Seine bekanntesten und preisgekrönten Werke sind unter anderem die Fantasy-Trilogie "The Grace Of Kings" sowie seine Kurzgeschichte "The Paper Menagerie".
Das mehrfach prämierte deutsche Horror-Magazin "Zwielicht 8" wurde mit zahlreichen Illustrationen von Daniel Huster garniert. Das fantastische Buchcover wurde vom Illustrator Björn Ian Craig entworfen.
Das Horrormagazin "Zwielicht 8" enthält Kurzgeschichten von:
Ken Liu – Laufschuhe (Running Shoes)
Daniel Huster – Schützenfest
Erik Hauser – Tante Ellas Männer
Regina Schleheck – Roman
Sascha Dinse – Endstation
Karla Schmidt – Sommer der Tiere
Ellen Norten – Paco
Sheila Hodgson – Villa Martine
Abel Inkun – Die Trophäe
Michael Schmidt – In Trance (Eine Silbermond Geschichte)
Sascha Lützeler – Der Spalt
Sven Lenhardt – Slow Dating in Stockholm
Felix Woitkowski – Lebensfahrt
Algernon Blackwood – Der Hund im Camp (The Camp of the Dog)
Zusätzlich ist vom Herausgeber Michael Schmidt ein Interview mit dem US-amerikanischen Science-Fiction- und Horror-Autor Jeffrey Thomas enthalten. Eine Auflistung aller Vincent-Preisträger des Jahres 2014 rundet das Horrormagazin "Zwielicht 8" ab.
Mehr Phantastische Literatur lesen: Fantasyguide-Anthologie "Schiff der Spione" | Steampunk-Erzählung von Nadine Muriel: "Dampfherz"
© Horror-Kurzgeschichte "Laufschuhe": Den Herausgebern und den beteiligten Autoren / Autorinnen danken wir herzlich für diese Leseprobe, 05/2020.
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