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(September 2010) Da haben wir mit Argusaugen die Zuwachsraten gewisser Parteien beobachtet und haben den Kopf geschüttelt über die alltäglichen Eulenspiegeleien, die sich Personen des öffentlichen Interesses leisteten. Die lustigsten Darbietungen präsentieren natürlich wie immer die amtierenden Politiker – Stars und Sternchen können da nicht mithalten. Und immer wieder tauchte ein Name auf, erst ab und an – und dann sogar tagesfüllend.
Anfangs haben wir eigentlich alle gelacht, denn die Ausfälligkeiten dieses verhinderten Freizeiteugenikers waren eigentlich recht komisch – vorausgesetzt, man hatte einen Hang zu dunkelbraunem Humor. Anstatt grinsend den Kopf zu schütteln hätten wir lieber schwarz für die Zukunft des Landes sehen und Einhalt gebieten müssen. Es hätte uns zu denken geben müssen, dass ein Mann in sehr gehobener Position und von starker öffentlicher Präsenz pausenlos Unsinn von sich geben kann und tatsächlich im Amt verbleibt.
Die hin und wieder geäußerte Kritik, zuweilen auch recht scharf formuliert, war eigentlich eher ein Ansporn für den Herrn mit dem rückständigen Weltbild. Wobei das Wort "Weltbild" hier nicht ganz treffend ist, denn Thilo S. beschreibt dieses Land in gewisser Weise als siebten Kreis der Hölle, in dem die Teufel Kopftücher tragen. Er fügt Dantes Inferno praktisch einen weiteren Abgrund hinzu – die Gefilden der Überfremdung, in denen wir bald alle auf ewig dahinvegetieren müssen. Und da er sich so bestätigt fühlt in einem Land, dessen Bürger vor allem unter der Angst vor wirtschaftlicher Not leiden, hat er nun ein Buch geschrieben. Eines, das viele, viele Menschen lesen werden – mit Sicherheit auch solche, die sonst eher kein Freund von Gedrucktem sind.
Flugs bezieht sich eine große Tageszeitung auf Umfragen, die eine Parteigründung des Herrn S. zum Thema haben. Genüsslich wird das Ergebnis präsentiert, das da heißt: Die Mehrheit der Deutschen würde eine solche Partei begrüßen und sogar wählen. Zwar sind traditionell die Meldungen dieses Pressemediums nicht allzu hart an die Tatsachen angelehnt – doch sprechen die Online-Kommentare zu dem betreffenden Artikel für sich. Für sich, und für die Sicht der Dinge des Herrn S.
Was da wirklich passiert, ist folgendes: Die Polemik greift, obwohl jeder sich unverbindlich und völlig kostenlos über alles und jedes umfassend informieren könnte und in den meisten Fällen auch tut, obwohl dunkler Aberglaube und dumpfe Vorurteile längst durch den noch nicht völlig heruntergewirtschafteten Bildungsstand der Republik verdrängt sein sollten. Wir wundern uns, denn was Herr S. da von sich gibt, ist nicht allzu weit entfernt von den Relikten aus der "guten alten Zeit", sprich: Den überkommenen Vorurteilen, die in den Köpfen der Menschen so festbetoniert waren, dass sie praktisch einem Glaubensbekenntnis gleichkamen.
Wie hieß es früher: Zigeuner stehlen kleine Kinder, und überhaupt alles, was nicht niet- und nagelfest ist. Bauern sind grundsätzlich dumm und zur höheren Bildung unfähig – alles was sie erreichen können, ist die nach ihnen benannte "Schläue". Afrikaner sind näher mit den Affen verwandt als Kaukasier und somit weitaus weniger entwickelt, haben von Geburt an eine sehr große kriminelle Energie und sowieso nur das Vergewaltigen weißer Frauen im Kopf. Asiaten sind erstens gelb und zweitens, wenn weiblich, fügsame Ehefrauen. Rothaarige sind temperamentvoller, aggressiver und aufbrausender als andere Menschen. Dicke Leute sind faul und übelriechend. Wer viele Kinder hat, gehört zur Unterschicht und ist asozial.
Schwule sind keine richtigen Männer und haben alle Aids. Frauen können nicht Auto fahren und schon gar nicht einparken. Italiener sind feurige Liebhaber und ernähren sich nur von Spaghettis. Wenn Franzosen nicht gerade Käse essen, oder kochen, haben sie schwer was los in der Liebe. Russen brühen ihren Kaffee mit Wodka anstatt Wasser und sind brutal und aggressiv. Ossis sind ganz besonders doof und samt und sonders Meister im Bespitzeln ihrer Nachbarn und Freunde. Juden sind geizige und extrem raffgierige Geldhaie. Die Deutschen sind ungeheuer sauber und tüchtig. Alle Türken stinken nach Knoblauch und pflanzen sich unentwegt fort. Spanier sind fürchterlich stolz und tanzen pausenlos Flamenco. Männer denken nur an das Eine und wechseln ihre Socken zu selten. Frauen haben keine Ahnung von Technik.
Die Schweden sind alle hellblond, heißen mit Nachnamen "Abba" und knabbern pausenlos Smörebröd, außerdem sind sie sexbesessen. Ohne Adolf Hitler gäbe es keine Autobahnen in Deutschland. Sämtliche Polen haben keine Ahnung von Sauberkeit und klauen von morgens bis abends Autos. Lesbische Frauen sind durchwegs Mannweiber und haben keinen abgekriegt, weil sie so hässlich sind. In Bayern trägt man nur Tracht und es besteht Weißwurstpflicht. Ostfriesen sind geistig minderbemittelt und nur für Witze gut. Engländer trinken nur Tee, essen blutiges Fleisch und tragen Melonen. Alle Schweizer sind neutral und haben tolle Uhren. Erfolgreiche Frauen haben sich hochgeschlafen und alle Rockmusiker nehmen Drogen. Senioren haben keinen Sex und Indianer kennen keinen Schmerz. Holländer haben die Wohnwagen erfunden und stellen nachts ihre Holzschuhe vor die Windmühlen. Die Rheinländer sind alle lustige Menschen und meist mit Schunkeln beschäftigt, wenn sie nicht gerade eine Weinprobe machen oder Sauerbraten essen.
Genug gelacht über diesen blühenden Unsinn? Es sollte uns im Halse stecken bleiben, denn diese Klischees sind noch längst nicht tot – und nicht ein Jota von dem entfernt, was Herr S. als Wahrheit präsentiert. Ein Mensch, der dergestalt an Legenden glaubt, könnte fast sympathisch wirken und als Mensch mit kindlichem Gemüt durchgehen, würde er sich nicht der Methoden aus der Malzkaffeezeit bedienen (Sie wissen schon: braun, billig und von vorgestern).
Den auf seine Weise genialen Dreh, den die Rassenhygieniker des Deutschen Reiches entdeckt hatten, versucht er tatsächlich wieder anzuwenden. Er bedient sich der Genetik. Die Gefahr, die seiner Ansicht nach von Menschen gewisser Nationalitäten ausgeht, sieht er in ihrer biologischen Matrix. Das hatten wir schon einmal und sollten es nicht auf eine Neuauflage ankommen lassen. Seinen Worten zufolge glaubt Herr S. sogar, dass das Beziehen von staatlicher Unterstützung recht schnell die genetischen Gegebenheiten verändert, die betreffenden Menschen verdummt und überdies minderwertig macht.
Herr S. erinnert fatal an die Feudalherren der vergangenen Jahrhunderte, die in jedem vom Schicksal weniger begünstigten Menschen eine Gefahr für ihre Privilegien und ihren Besitz sahen und dementsprechend auftraten. Wobei nicht außer Acht gelassen werden sollte, dass die so Besorgten die Gegebenheiten erst geschaffen hatten.
Wie dem auch sei – plötzlich kommt wieder jemand daher, der lehrreiches im Fach "angeborenes Untermenschentum" zu vermitteln weiß und durchaus seine Anhänger gefunden hat. Wenn wir nicht alle an unseren Geldbörsen den Zustand des Staates sehen würden – an der allgemeinen Bereitschaft, diese Dummheiten anzunehmen – sähen wir es mit Sicherheit. Allerdings wieder einmal zu spät ...
© "Die sonderbaren Erkenntnisse des Herrn S": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2010.
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