|
Seit einigen Jahren bin ich Vegetarier, und ich finde das auch gut. Was ich eher nicht gut finde, sind manche Kommentare dazu. Oder eher Vorkommnisse. Nachdem ich jenen Entschluss gefasst hatte, machte ich mir eigentlich keine großen Gedanken mehr darüber – das tut man schließlich vorher.
Und ich gehe auch nicht damit hausieren, das soll heißen: vor mir ist man sicher. Keine biestigen Kommentare und angeekelten Blicke auf den Teller des Tischnachbarn. Tatsächlich kann man mich beruhigt zum Essen einladen, ohne dass eine Tischpredigt erfolgt.
Ich suche in aller Ruhe auf der Karte ein leckeres Gratin (Milchprodukte habe ich nicht vom Speiseplan gestrichen, ich bin kein Veganer) oder vielleicht Auflauf, Pasta oder Salate – das Angebot ist groß. Kein Aufsehen, keine Probleme. Jedenfalls keine, die ich mache.
Wird durch eine Indiskretion einer meiner Bekannten meine Besonderheit ruchbar, geht es dann los mit der Performance. Entsetzen macht sich breit: "Ja, aber da hast du doch chronischen Vitaminmangel, oder? Also nein, Fleisch brauche ich."
Früher hätte ich da nachgefragt, aber mit der Zeit wird man abgeklärter. Ein Steak ist nun mal keine Kiwi, der Vitamingehalt hält sich da in Grenzen. Und vor allen Dingen, in früheren Zeiten hatten die normalen Menschen – also die, welche nicht mit großem Reichtum belastet waren – ganz bestimmt nicht täglich Fleisch auf dem Teller. Das war allerdings zu einer Zeit, als die Ernährungslage weniger üppig, dafür aber wohl noch nicht zu der Art Restmüll verkommen war, die man heute so konsumiert.
Die Kinder der Milchschnittenära sind selten Ernährungswissenschaftler. Meist versuche ich an dem Punkt zu erklären, dass man als Vegetarier nicht mit einem Fuß im Grab steht, oder schwach und kraftlos sein Leben fristet. Man nehme die Büffel. Sie sind durchweg Vegetarier und strotzen vor Kraft.
Nach kurzem Schweigen kommt das Argument, Menschen seien schließlich keine Büffel, was ich zugeben muss. Der Punktestand ist somit wieder gleich, der kleine Vorteil genullt.
Mein Einwand, manches Schnitzel könne praktisch als Hausapotheke in Notfällen herhalten oder eine Geschlechtsumwandlung hormonell vorbereiten, wird hohnlachend abgetan. Es gibt ja schließlich Kontrollen, nicht wahr – und außerdem müssen wir alle sterben. Aber bitteschön, nicht am Fleischmangel.
Mir schmeckt mein Gratin weiterhin hervorragend, obwohl ich eine Ahnung habe, wie die nächste Runde eingeläutet wird. Jawohl, jemand sagt: "Aber Fisch isst du doch, oder? Fisch ist doch schließlich kein Fleisch!" Ich wusste es, irgendjemand stellt meine Lieblingsfrage. Und mit aasigem Unterton frage ich, aus welchem Material so ein Fisch wohl besteht. Marzipan vielleicht? Kurze Ruhe im Ring, dann ein Auflachen hier oder da. Der eine oder andere kennt auch einen Veggie, und der isst Fisch. Also kann Fisch ja kein Fleisch sein, oder doch?
Ganz kühn mache ich an dieser Stelle einen kleinen Exkurs zum Freitag, an dem bekanntlich immer Fisch gegessen wurde. Warum weiß eigentlich keiner so genau, irgendetwas Sonderbares mit Fleisch und Blut des Herrn, nicht wahr. Jedenfalls nicken alle beifällig und sind sich einig. Und dann, da man gerade beim Ritus der Kirche ist, die Kardinalsfrage: "Warum bist Du eigentlich Vegetarier?" Diese Frage fürchte ich nun wirklich, denn es braucht da tausend Worte – oder keins. Der Entschluss, kein Fleisch mehr zu essen, hat niemals nur einen Grund.
Leider kenne ich keinen Spruch, der die Sache kurz und bündig erklärt. Es gibt da zwar Ansätze, wie zum Beispiel: "Ich esse nichts, was Augen hat." Aber da müsste ich auch Kartoffeln meiden, und die liebe ich nun mal. Oder wie ein berühmter Mann einmal sagte: "Tiere sind Freunde, und man isst seine Freunde nicht." Aber tatsächlich ist es nicht so einfach zu erklären. Und es würde sehr lange dauern – außerdem ist das nicht die Zeit und nicht der Ort – die Anwesenden säbeln noch an ihrem Schnitzelohnekartoffelsalat oder Steakohnebohnen herum.
Irgendwie biege ich die Angelegenheit dann ab. Es gibt Menschen, die kein Sauerkraut mögen oder kein Obst – sie essen es eben nicht. Und ich mag eben kein Fleisch. Das erweist sich meist als guter Schachzug, wenn es auch nicht unbedingt rückhaltlos hingenommen wird. Obwohl es die Wahrheit ist, mir schmeckte das Zeug nie besonders. Aber die Welt ist soweit wieder in Ordnung, und man kann zur Tagesordnung übergehen. Wenn jemand schon aus der Reihe tanzt, dann muss er einen guten Grund dafür nennen können. Sonst macht es Angst.
Die Mechanismen kenne ich noch aus der Zeit, als ich mit dem Rauchen aufhörte. Aber das ist eine andere Geschichte ...
© "Vegetarisch: Der Marzipanfisch – Auch Kartoffeln haben Augen": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2010. Bildnachweis: Marzipan auf Teller, CC0 (Public Domain Lizenz).
Archive:
Jahrgänge:
2022 |
2021 |
2020 |
2019 |
2018 |
2017 |
2016 |
2015 |
2014 |
2013 |
2012 |
2011 |
2010 |
2009
Themen:
Rezensionen |
Krimi Thriller |
element luft symbol |
Ratgeber |
Sagen Legenden |
Fantasy Mythologie
Noch mehr Bücher lesen (Werbung):
Fantasy & Science Fiction
| Krimis & Thriller
| Ratgeber
| Reise & Abenteuer
Sie schreiben anspruchsvolle Romane und Erzählungen? Wir suchen neue Autorinnen und Autoren. Melden Sie sich!
Wenn Sie die Informationen auf diesen Seiten interessant fanden, freuen wir uns über einen Förderbeitrag. Empfehlen Sie uns auch gerne in Ihren Netzwerken. Herzlichen Dank!
Sitemap Impressum Datenschutz RSS Feed