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Sie erwacht von unheimlichen Geräuschen ... Klirren, Scheppern, zuschlagende Schranktüren und verhaltenes Schimpfen. Irgendwie scheint es aus der Küche zu kommen ... und das ist sonderbar, denn heute ist doch Sonntag. Und am Sonntag betritt für gewöhnlich niemand diesen Raum der Wohnung ... außer ihr selbst natürlich.
Sie will sich erst gar keine Sorgen über Einbrecher oder sonst einen Störfaktor machen müssen, sie zieht sich die Decke über den Kopf. Mit einer Hand langt sie auf den Platz neben sich, greift aber ins Leere. "Himmel", denkt sie, "Muttertag!"
Vollends wach geworden, schiebt sie die Bettdecke zurück und setzt sich auf. Aus der Küche kommen immer noch diese Geräusche, aber sie kann das jetzt eindeutig zuordnen. Das gedämpfte Gemecker kommt von ihrem Mann – das ab und zu aufwallende und rasch wieder unterdrückte Greinen ist der Jüngste. Die Mädchen zischen sich Unverständliches zu.
Und da schlängelt sich auch schon der Kaffeeduft in das Schlafzimmer, und ein leises Knistern verrät, dass irgendetwas in eine heiße Pfanne geworfen worden ist. Allein bei dem Gedanken an den Muttertagskaffee des letzten Jahres geht ihr Magen auf Abwehrhaltung – der war mindestens dreimal stärker als der, den sie macht.
Morgens kann sie nicht viel essen, sie hat immer einen Blick zur Uhr hin. Aber diese fettigen Rühreier mit Schinken gehören irgendwie zum Ritual an diesen Muttertagen und sie wird tapfer sein – ihr Mann glaubt, dass ein reichhaltiges Frühstück nach seinem eigenen Geschmack unerlässlich ist.
Sie wünscht sich, dass es schon Abend wäre und die Normalität wieder einkehrt, dass dieser Muttertag schon vorüber wäre und sie die Küche schon saubergemacht hätte. Es ist so schwierig, dieses Harmoniebedürfnis zu erfüllen, das die ganze Familie auf einmal überfällt. Sie ist so müde, und tatsächlich riecht es aus der Küche schon wieder brenzlig ... wetten, dass der Toast wieder schwarz geworden ist?
An den Geräuschen kann sie erkennen, dass alle gleich mit den Tabletts vor ihrem Bett stehen und wahrscheinlich wieder alles vollkleckern werden ... warum kann sie nicht an diesem Tag einfach nur ausschlafen – nur Ruhe haben. Das wäre genau das, was sie brauchte an diesem Tag. Einfach nur Ruhe ...
+ + +
Die alte Frau sitzt am Fenster und schaut hinaus in die gepflegte Gartenanlage, eine Hand liegt in ihrem Schoß, die andere auf der Tischplatte, wo eine kleine Schachtel Pralinen steht und eine Flasche Kölnisch Wasser mit Schleife.
Die Frau zupft ein wenig an dem roten Band herum, schiebt die beiden Sachen ein wenig hin und her. Das Konfekt wird sie nachher ihrer Zimmernachbarin geben, das Kölnisch Wasser auch. Sie mochte das Zeug nie, aber danach hat keiner jemals gefragt.
Als die Kinder noch klein waren, gab es selbstgemalte Bilder zum Muttertag, später dann Schlüsselbrettchen von den Jungs und selbstgestickte kleine Nadelkissen von den Mädchen. Das machten die in der Schule, im Handarbeits- und Werkunterricht.
Ihr Mann sagte immer zu ihr: "Heute kochst Du nicht, heute gehen wir raus." Dann spazierten sie mit den Kindern zu der Waldwirtschaft und aßen dort. Viel konnten sie sich ja nicht leisten damals – er verdiente zwar ganz ordentlich, aber die Kinder sollten es mal besser haben und sie hatten immer gespart. Als die Kinder aus dem Gröbsten raus waren, hatte sie eine Putzstelle angenommen. Und es hatte sich gelohnt, der Älteste hatte studiert und die drei anderen etwas Richtiges gelernt.
Ihr Mann fehlte ihr an so einem Tag wie heute besonders, aber er hatte es übertrieben mit dem Schuften und war eben gerade sechzig geworden, als er starb. "Er hätte auf die Warnsignale seines Körpers hören sollen", hatte der Arzt in der Notaufnahme gesagt. Aber er hatte nie an sich gedacht, er hatte ein zu gutes Herz – eines, das dann einfach den Dienst aufgab an diesem Tag. Das war lange her, so lange her.
Seit sie sich die Hüfte gebrochen hatte vor drei Jahren war sie hier im Heim, und meist war sie allein. Das war nichts neues, das war in den letzten Jahren immer so gewesen. Seltene Besuche von den Leuten, die einmal ihre Kinder gewesen waren und die ihre Kinder mitbrachten. Oma hier und Oma da ... sie redeten, und den Enkelkindern sah man an, dass sie nicht hier sein wollten. Sie verstand nicht die Hälfte von dem betulichen Geschnatter, und wenn sie nach spätestens einer halben Stunde wieder allein war, bedrückte sie das nicht sehr.
Als sie neu im Heim war, hatte sie nach jedem Besuch geweint – auch an den Tagen, wenn niemand kam, obwohl sie es doch versprochen hatten. Irgendwann kamen sie nur noch zu den Feiertagen kurz und natürlich zum Muttertag. Und ließen diesen Kram hier, der ihr nichts bedeutete. Sie sieht wieder in den Garten hinaus und denkt an ihren Mann, wie er immer sagte: "Die Küche bleibt heut kalt, Mutter. Wir essen außerhalb." Lächelnd nickt sie ein, eine blasse Träne stiehlt sich ihre alte Wange hinunter.
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Er ist erst spät in der Nacht nach Hause gekommen und sofort eingepennt, besoffen wie er war. Heute Morgen war er noch nicht ansprechbar, das ist wahrscheinlich besser so – die Frau sitzt am Küchentisch und umklammert einen Becher mit heißem Kaffee. Heute ist Muttertag, das hat sie gestern Abend noch mitbekommen im Fernsehen. Sie denkt an ihre Kinder, die sie heute nicht sehen wird – sie werden erst am nächsten Wochenende hier sein.
Auch das ist besser so, denkt die Frau und betastet vorsichtig ihr Auge. Es fühlt sich besser an, aber man sieht es doch noch ziemlich deutlich – und es wäre ihr nicht recht, wenn die beiden das sähen. Sie sind nicht mehr so klein, dass sie so etwas nicht mitkriegen. Das hat er ihr vor zwei Tagen verpasst, da war er noch imstande, sie zu vermöbeln, als er heimkam.
Gestern hatte sie Glück gehabt – er war zu dicht gewesen. War schon besser für die Kinder, dass sie erst mal weg sind – müssen so was nicht mitkriegen. Haben schon viel zu viel gesehen. Trotzdem geht es ihr heute nicht besonders, sie ist schon die ganze Zeit am Weinen, leise natürlich – denn wenn er wach wird, kann sie sich auf 'was gefasst machen.
Sie denkt an ihre Mutter damals, wie sie ihr die in der Schule selbstgemalte Muttertagskarte aus der Hand geschlagen hat, wie immer völlig betrunken, und wie sie geschrien hat, dass sie sofort saubermachen soll, weil der Boden vor der Couch vollgekotzt war. Sie hat nie getrunken, ihr wurde schon von dem Gestank schlecht, aber alles ist schiefgelaufen.
Sie wollte das alles anders machen mit ihren Kindern, aber sie konnte sie nicht mal vor dem Vater schützen. Und weil sie immer nur Angst hatte, ist ihr auch schon mal die Hand ausgerutscht oder sie hat losgeschrien. Keiner durfte Fehler machen, sonst hat er draufgehauen – aber die Kinder machten nur Fehler – und das gefiel ihm sogar. Und sie hatte nur Angst.
Sie glaubt nicht, dass sie jemals ein Muttertagsherz kriegen wird oder eine gemalte Karte. Und das kann sie verstehen, denn sie ist keine Mutter. Das sagt sogar ihr ständig benebelter Kerl – und er hat wohl Recht. Denn wenn sie eine Mutter wäre, dann wären die Kinder hier bei ihr und er draußen. Und heute Morgen würden sie hier am Tisch sitzen und Kuchen essen – und sie würde sich freuen über die Muttertagsgeschenke. Sie fängt an, lautlos und heftig zu schluchzen, mit vor den Mund gepresster Faust. Muttertag.
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Als Anna Marie Jarvis vor mehr als einhundert Jahren den Muttertag begründete, war ihr wohl erst einmal nicht klar, was das für Folgen haben würde. Denn was eine Hommage an alle Mütter dieser Welt werden sollte, wurde nur allzu rasch kommerzialisiert und zu einem Riesengeschäft.
Die Gründerin wandte sich mit Grausen ab und kämpfte für die Abschaffung des Feiertages, allerdings erfolglos. Die ganze Sache hatte sich längst verselbstständigt und niemand wollte die Gans, die goldene Eier legt, wieder aus dem Stall jagen.
Also blieb es dabei – und seitdem erfreut sich dieser Sonntag im Mai großer Beliebtheit. Über den Wert einer kalendarisch verordneten Anerkennung kann man streiten, denkt man an die Leistung, die von den Müttern dieser Welt erbracht wird. Denn dieser eine Tag wirkt eher wie reiner Hohn.
Denkbar wäre vielleicht, den Muttertag im Sinne des Wortes zu begehen. Frauen sollten, anstatt lächelnd Sträuße und Pralinen entgegenzunehmen, den Tag wirklich feiern. Mütter sollten an Mütter denken in der ganzen Welt, sie sollten sich an diesem Tag solidarisch verbunden fühlen mit einer der größten Gemeinschaften überhaupt.
Denn wenn es auch Unterschiede in der Lebensart, den politischen Gegebenheiten und dem Einkommen gibt: Mütter haben meist die gleichen Sorgen und Ängste – sie kämpfen den gleichen Kampf. Ob eine Mutter sich um ihre Söhne sorgt, die im Krieg sind, ob sie für eine gute Ausbildung schuftet oder einfach dafür, dass ihre Kinder gut leben können – es ist überall gleich. Und wenn ein internationales Bewusstsein entsteht, das sich gleichschaltet in der Sorge um die nächste Generation und deren Lebensraum, dann könnte einiges erreicht werden.
Nur wer sich noch nie um ein Kind gesorgt hat, ist in der Lage, nur an diesen einen Tag zu denken. Mütter denken immer an die, für die sie sorgen müssen ... und unserer Umwelt würde dieses Denken, wenn es sich denn etablieren könnte, sehr guttun. Und so nebenbei, sprechen wir nicht immer von "Mutter Erde"?
In diesem Sinne einen nachdenklichen und harmonischen Muttertag.
© Textbeitrag "Drei mal Muttertag, und ein Aufruf": Winfried Brumma (Pressenet), 2010. Bildnachweis: Statue Frau und Kind, CC0 (Public Domain Lizenz).
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