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Spaziergang mit Hund an einem schönen Sommertag. Das sollte es werden und das war es auch, bis ich diese Frau schreien hörte. Die Quelle des wüsten Keifens lag auf dem Heimweg, und so dauerte es auch nicht lange, bis ich sah, wer da so unglaublich kreischte und – leider, möchte ich fast sagen – bis ich verstand, worum es ging.
Vor einer Haustür stand eine Frau, die auf einen Jungen einschrie, der wohl etwas über zehn Jahre war. So genau konnte ich das nicht einschätzen. Ein Mann stand auch dabei, der Vater wohl, mischte sich aber in keiner Weise ein.
Was da zu hören war, stellte sich als wahre Hasstirade auf Hartz IV Bezieher heraus:
"Die kriegen doch alle Hartz IV, weißt du das denn nicht! Die wollen nicht arbeiten! Die arbeiten doch überhaupt nicht und du setzt dich zu denen! Warum machst du sowas? Willst du auch so werden, oder was?"
Das wiederholte sich in einigen Variationen. Die Frau hörte einfach nicht auf, tobte regelrecht und spie geradezu ihren Hass heraus – dem Jungen vor die Füße. Das erschrockene Kind versuchte, so etwas wie Haltung zu bewahren in diesem Sturm der Entrüstung und tat mir sehr leid. Es ist nicht einfach, so etwas wie Würde zu bewahren, wenn man im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht und wahrscheinlich die ganzen Bewohner dieser Straße hinter ihren Fenstern mithörten.
Mir fuhr dieser Hass geradezu in den Magen und ich ging langsamer, zeigte dass ich da war und dass ich zuhörte, um auf diese Weise vielleicht diese Frau zur Besinnung zu bringen, damit sie von dem Kind abließ. Die Szene kam mir zunehmend unwirklich vor, so als befände ich mich in einem Film, in dem irgendjemand "Schnitt" rufen würde. Doch das passierte nicht, denn das alles war Realität.
Die Frau, das Kind, der Mann und dieser Hass.
Man bemerkte mich dann auch, hörte meinen freundlichen Gruß und die Worte: "Wir können ja auch wirklich froh sein, hier zu leben, wo es so viel Arbeit für jeden gibt und wir uns mit diesem Abschaum nicht abgeben müssen."
Mir fiel nichts anderes ein für den Moment, aber der triefende Sarkasmus schwappte tatsächlich spürbar an die Wahrnehmung der kreischenden Frau und sie wurde leiser, verstummte ganz und sah mir nach, als ich langsam weiterging.
Möglicherweise habe ich die Autorität dieser Mutter vor den Augen ihres Sohnes ein für alle Mal untergraben, aber so soll es auch sein. Dieses Kind, so wünschte ich mir, sollte wissen, dass dieser Standpunkt seiner Mutter – nennen wir es einmal freundlich so – keineswegs der einzige war. Und dass er auf jeden Fall angreifbar und nicht der Weisheit letzter Schluss war. Mehr konnte ich nicht für den Jungen tun.
Dazu muss man wissen, dass diese kleine Stadt sehr strukturschwach ist und über keine nennenswerte Industrie verfügt. Da ist ein großer Arbeitgeber, der eine gewisse Monopolstellung innehat und fast nur noch Zeitarbeitsfirmen nutzt. Kleinere Betriebe und kleine Läden, von denen immer mehr verschwinden, machen den Arbeitsmarkt aus. Ein Callcenter, bei dem die Belegschaft schnell wechselt, ist auch ansässig.
Das ist Grenzland hier und die Lage ist nicht sehr günstig. Zudem verlassen die Jungen und Hoffnungsvollen die Stadt, so schnell sie können. Sie ist sehr geschrumpft in den letzten Jahren, diese Stadt, die sehr nahe an der Grenze liegt und in der es kaum noch wirklich anständig bezahlte Arbeit gibt.
Aber es gibt viele Alte, viele Kranke und viele Arbeitslose. Letzteres bedeutet leider auch: viele Hartz IV Bezieher. Und über die wusste die "besorgte Mutter" sehr gut Bescheid.
Schließlich wissen alle, spätestens seit der "aufklärerischen Arbeit" einiger "Fernsehsender", dass eben diese Leute faul sind, dumm und außerdem auch noch dreckig. Natürlich ist das kein Umgang für ein Kind. Und auch überhaupt für niemanden. Das zeigen die Fallbeispiele dieser "informativen Fernsehsendungen" doch wirklich sehr eindringlich. Und weil man dort genau solche Leute sieht und es schließlich ja auch "Reportagen" sind, muss es ja stimmen.
Es ist nicht viel anders als die Spiele der Antike, die in den Arenen den Pöbel erfreuten, indem sie ihm Menschen und Kreaturen vorführte, die in weitaus schlimmerer Lage war als diejenigen, die auf den Rängen hockten.
Und dieser Effekt ist auch gewollt:
Seht her: Die sind anders als ihr, sie sind dumm und dreist und leben im Dreck. Euch geht es doch sehr gut. Freut euch also des Lebens. Und vergesst, dass eure Jobs nicht sicher sind, dass jeder in den Bezug rutschen kann. Beschwert euch auf keinen Fall. Denn es kann, wie ihr seht, viel schlimmer kommen.
Die Zuschauer genießen das, denn sie haben Arbeit, stinken nicht, sind nicht dumm, und die Wohnung ist aufgeräumt (aufgeräumte Zimmer sind eine Charaktereigenschaft – so die Botschaft einiger "Fernsehsender").
Die Menschen scheinen durchaus offen für die sonderbare Sicht der Dinge, die Hartz IV Bezieher als minderwertige Spezies realisiert. Denn wenn man selber Angst hat, durchaus die Ahnung hat, wie wenig sicher die eigene "Stellung" in der Gesellschaft ist, tut es sehr gut, wenn ein scheinbarer Graben vor diesem Abstieg schützt. Wo man doch über einen Schulabschluss und ein Putzset von einer angesagten Marke verfügt, die Kinder sauber sind und man sich ein kleines Urläubchen leisten kann.
Die Massen, die in Rom und anderen antiken Städten den Daumen nach unten hielten, dachten nicht nach. Sie verzehrten einen Imbiss, während in der Arena unter ihnen Menschen geopfert wurden. Was sie nicht wussten, war die Tatsache, dass sie selber ein Teil der Spiele waren.
Aber auch heute werden die Massen von den Medien aufeinandergehetzt und hassen sich, ohne wirklich etwas zu wissen.
Im Nachhinein frage ich öfter, was für eine tolle Arbeit diese keifende Frau denn hat. Nach ihrer Ausdrucksweise und ihrem Benehmen schätze ich, es könnte ein Minijob in irgendeinem Markt oder einer Reinigungsfirma sein. Oder ist das jetzt ein Vorurteil?
© Thema: "Spaziergang auf der Hartzer Allee. Hartz IV Bezieher als minderwertige Spezies in den Medien?": Ein Textbeitrag von J. D. (Person ist der Redaktion bekannt), 08/2019. Bildnachweis: Architektur einer Kleinstadt, sowie Skulpturen in Bronze, beide CC0 (Public Domain Lizenz).
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