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Die Welt heißt mit Nachnamen "YouTube" und überhaupt: "Music makes the world go round". Ohne Musik geht gar nichts – das weiß jeder, der schon mal nach dem Weg fragen musste und geduldig wartete, bis der oder die Angesprochene die Ohrhörer ausstöpselte, um die Frage zu verstehen.
Musik hat eine wohltuende Wirkung auf die Psyche, wie man schon im Altertum wusste. Die Schamanen und Priester der Vorzeit wussten die kommunikativen Kräfte von Rhythmus und Melodie zu schätzen, und den keltischen Barden sagt man zauberische Kräfte nach. Deren Lieder erklangen auf dem Schlachtfeld ebenso wie in den Hallen der Könige, und ein Meister der Zunft gehörte zu den Ersten des Volkes.
Dass bestimmte Tonfolgen auf das Gemüt wirken, war diesen Sängern bekannt, und sie setzten dieses Wissen auch ein. Die Menschheit wurde von Musik seit den Anfängen begleitet, von Rohr- oder Knochenflöten und fellbespannten Trommeln, hohlen Baumstämmen bis zu den kunstvollen Harfen der Kelten. Angefangen von den Lauten der Minnesänger, den großen Orgeln des Barock bis hin zu Synthesizern und E-Gitarren gab es immer Instrumente, die dem Zweck, dem Bedürfnis oder dem Zeitgeschmack entsprachen.
Bevor es so etwas wie Tonträger gab, war Musik nicht unbedingt etwas Alltägliches. Barden besuchten die Hütten der Armen nicht sehr oft. Aber Flöte und Trommel auf dem Dorfplatz – oder bei kleinen Festen – waren mit Sicherheit öfter zu hören. Und die Menschen pfiffen und sangen nicht anders als heute. Die Lieder, die entstanden, wurden aufgegriffen, weitergegeben und verbreiteten sich, wenn auch oft in leicht abgewandelter Melodie und Text. Diese alten Stücke, von denen eigentlich keiner mehr weiß, von wem oder woher sie stammen, nennt man Volkslieder. Jedenfalls ist das eine der Definitionen, die angeboten werden.
Ein Volkslied, so heißt es weiter, soll "leicht fasslich in Melodie und Wort" sein. Also etwas, das sich leicht singen oder pfeifen lässt. Und diese Art der Musik scheint sich in akuter Gefahr zu befinden, denn der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Jürgen Rüttgers, will zur Rettung des deutschen Volksliedes schreiten. Er sieht unser kulturelles Erbe bedroht – ja, er spricht sogar von Identitätsverlusten, denn: "... wer nicht weiß, woher er kommt, der weiß auch nicht, wohin er geht."
Jürgen Rüttgers wünscht sich weiter, dass Menschen aller Altersgruppen vermehrt Volkslieder singen und hat angekündigt, so einiges dafür tun zu wollen. Das muss an und für sich nichts Schlimmes bedeuten, aber die Frage wäre, ob Rüttgers sich mit der oben genannten Definition des Wortes "Volkslied" identifizieren kann. Im Allgemeinen wird dieser Terminus mit Lodenstoffen, Lederhosen, Dirndln oder auch – gewissermaßen antipodisch – mit Schifferhemden und ebensolchen Mützen gleichgesesetzt.
In abendlichen Fernsehsendungen, die sich dieses Wort auf die Studioflagge geschrieben haben, ist das auf jeden Fall so. Sobald jemand so etwas wie eine Tracht trägt, ist das, was er singt, eben ein Volkslied. Das ist natürlich Unsinn, denn die seichten Schlager, die von Rosen auf den Bergen, Schatzileins und gebrochenen Herzen am Sessellift erzählen, stammen aus der Feder von zeitgenössischen Schreibern, die am Trend verdienen. Die schönen Kompositionen aus den letzten drei Jahrhunderten sind wohl auch nicht zum echten Genre zu rechnen, zudem hört man sie bei diesen herzigen TV-Produktionen nicht.
Geht man in der Geschichte weiter zurück, stößt man auf die Lieder des Mittelalters, die der Öffentlichkeit – also dem "Volk" – nicht unbedingt so bekannt sind, dass man sie an Straßenecken und bei Partys auswendig singt. Zudem sind sie nicht unbedingt zum Schunkeln geeignet – obwohl das Experiment: "Maria und Margot Hellwig singen Süßkind von Trimberg und Walther von der Vogelweide" ein Jahrhundert-Ereignis wäre. Vielleicht auch ein Abend mit Karl Moik und den Stabreimgesängen der Germanen, weil die wiederum viele Lieder sangen, die uns allerdings von der Instrumentierung und vom Rhythmus her ein wenig fremd ankämen. Außerdem kennt man nicht allzu viel davon.
Also weiß man nicht wirklich bestimmt, welches deutsche Liedgut nun Jürgen Rüttgers vermehrt verbreiten will. Es sei denn, man vereinfacht die Sache, indem man das zum Volkslied erklärt, was vom Volk gesungen und gehört wird.
Das also würde bedeuten, das alles gar nicht so schlimm werden kann, denn dann können wir uns auf viele interessante Fernsehabende freuen mit Leuten in Jankern, die Lady Gaga Songs singen. Schulchöre pflegen das Volkslied mit schönen Potpourries aus den Werken von Dieter Bohlen und Sido.
Und ältere Bürger treffen sich zu Wanderungen, bei denen begeistert Ralph Siegel gesungen wird, und die Schulkinder sind text- und rhythmussicher beim morgendlichen Technostück. Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen kennen keine Lieder. Schöner unzutreffender Spruch – denkt man an die in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts viel gesungenen Stücke.
Außerdem, wenn man nicht darangeht, unsere Welt zu retten, wird es das Ende keinesfalls versüßen, wenn der Letzte, der das Licht ausmacht singt: "Horch, was kommt von draußen rein."
© "Kulturelles Erbe bedroht? Wo man singt, da lass Dich ruhig nieder": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2010. Bildnachweis: Violine und Noten, CC0 (Public Domain Lizenz).
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