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Man nimmt die letzten Sekundenbruchteile vor dem Unfall noch als gesunder Mensch wahr, dann wird alles schwarz. Und wenn es dann irgendwann wieder hell wird, ist alles anders. Der Körper gehorcht nicht. Die Menschen um einen herum agieren und sprechen. Man versteht, was sie sagen, aber man kann sich nicht äußern.
Man sieht in die Augen derjenigen, die sich über das eigene Gesicht beugen und "er-kennt" Verwandte, liebe Menschen und Bekannte – aber das ist eine Einbahnstraße. Den Menschen, der aus dem eigenen Blick spricht, können die anderen nicht mehr sehen.
Gesichter wechseln auf der Leinwand, die man gezwungen ist zu beobachten. Man kann sich nicht aussuchen, was man sieht, weil man den Kopf nicht drehen kann. Wenn es ruhig ist und sich niemand im Raum aufhält, ist die Weiße der Zimmerdecke die Bühne für die verzweifelten Gedanken und die Schreie, die im eigenen Innern hallen, und die niemand hört.
Wie schwerelos scheint man sich vielleicht selber – nur Gedanken, aber keine Verbindung zum Körper. Keine Schmerzen, die auf Nervenbahnen angewiesen sind, denn die sind seit dem letzten Moment vor der Schwärze lahmgelegt. Nur die Qualen der Verzweiflung und der Einsamkeit sind spürbar. Der ständige Ruf "Ich bin doch da, seht mich doch an!" den keiner hört, ist immer präsent. So wie ein tausendfaches Echo, das sich immer wieder bricht und das niemals aufhört.
Man hört Ärzte und Schwestern sprechen, man sieht die Tränen der vertrauten Menschen, aber man ist gefesselt, kann niemanden erreichen. So als ob man im Kino säße und einen niemals endenden Film sehen müsste, in dem alle Personen aus dem eigenen Leben auf die Leinwand verbannt sind. Man kann sie nicht erreichen, man kann sie nicht fragen oder sie trösten. Und der Film endet nicht, keine Lichter gehen an, und man tritt nicht hinaus auf die Straße, um nach Hause zu fahren.
Man ist bewegungslos an den Sitz gefesselt. Und die Figuren im Film reden über einen selber, sie reden über alles mögliche, weil sie nicht wissen, dass man da ist. Und weil sie nicht glauben, dass man wiederkommt. Und das alles über viele Jahre, in denen man den Vorführraum nicht verlassen kann, in denen man sich während des Filmes völlig in sich zurückzieht und in der Vergangenheit ist, in der das Leben noch anders war.
Dann wieder der Klinikalltag mit den immer gleichen Dingen, die man sieht, den gleichen Farben und vielen sich wiederholenden Gesprächen oder Worten, die man hört. Wie weit hat sich die Hoffnung zurückgezogen, wie misst man die Gesundheit des eigenen Verstandes durch die Tage und Jahre? Stellt man sich die Gespräche, die man mit der Familie nicht führen kann, vor? Erschafft man eigene Filme, in denen man sich mitteilen kann und wahrgenommen wird?
Die Gliedmaßen verändern sich, die Sehnen verkürzen, und der Körper nimmt mit der Zeit eine gekrümmte Haltung ein, man spürt es nicht. Klinikpersonal sorgt für die Pflege und die Ernährung, und manches Mal spricht jemand mit einem oder auch nur mit sich selber. Die Erwartung, dass irgendjemand das Bewusstsein hinter den Augen erkennt, ist geschwunden – diese Hoffnung ist vorüber. Das körperlose Aufbäumen der Seele ist etwas anderem gewichen, vielleicht Geduld, vielleicht dem "Sich Fügen".
Alle sagen: Wachkoma. Und sie sehen nicht, dass es nicht stimmt. Dieser kurze und wahrscheinlich eher klägliche Versuch, etwas Unvorstellbares nachzuvollziehen, bezieht sich auf den Belgier Rom Houben, dessen Geschichte Schlagzeilen macht. Ein Mann, der durch einen Unfall völlig gelähmt und irrtümlich für komatös gehalten wurde, bis ein Arzt sich seiner annahm. Dieser machte eine Tomografie und stellte fest, dass die Gehirntätigkeit einer normalen Funktion im Wachzustand entsprach und entdeckte sozusagen den Menschen Rom Houben wieder.
Durch eine minimale Beweglichkeit eines Fingers des Patienten wurde die Kommunikation wieder möglich, anhand einer Tastatur. Mit 46 Jahren war Rom wiedergeboren worden. Die medizinischen Einzelheiten sind nicht das Beeindruckende daran, sondern der menschliche Aspekt. Vor dem Unfall war er Sportler gewesen, also ein sehr körperbewusster Mensch. Der völlig isolierte Zustand dauerte 23 Jahre lang, und es ist kaum zu glauben, dass Rom Houben nicht wahnsinnig wurde.
Aber er schildert seine Art, seinen Verstand durch Meditation und Wegträumen zu schützen, auf sehr beeindruckende Weise. Zwar ist er weiterhin und wahrscheinlich für immer in einem disfunktionalen Körper gefangen, aber der lange Film ist endlich zu Ende und er kann sich mitteilen und kommunizieren.
Nach der absoluten Isolation wieder mit Menschen sprechen zu können, mit seiner Mutter zum Beispiel, die niemals glaubte, dass er völlig verschwunden war, ist ein Geschenk und Wunder für Rom. Und natürlich auch für die, die ihn kennen und lieben. Für andere sollte es ein Beispiel für wahres Heldentum sein, denn dieser Kampf, den Rom Houben über Jahre kämpfte, hätten viele wohl verloren. Wie stark Menschen wirklich sein können, ist immer wieder überraschend und auch wunderbar.
Der Gedanke an Rom Houben und seinen einsamen Kampf sollte das Selbstmitleid, das uns zuweilen bei recht nichtigen Anlässen befällt, etwas dämpfen. Denn wer über Einsamkeit klagt, obwohl er eigentlich Tausende von anderen Menschen erreichen kann, sollte an die ultimative Ausgeschlossenheit denken, mit der Houben leben musste. Und letztendlich überlebt hat.
© "Lebenslänglich! Einsam gefangen im eigenen Körper": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2010. Bildnachweis: Arbeit im Labor, CC0 (Public Domain Lizenz).
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