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Seit einigen Wochen habe ich ein neues Büro. Im 9. Stock. Und die Kollegen beneiden mich darum. Weil mir niemand über die Schulter auf den Bildschirm schauen kann, da ich mit dem Rücken zur Wand sitze. Weil ich ein Fenster öffnen kann und weil ich angeblich eine wunderschöne Aussicht habe. Über die Dächer anderer Bürogebäude und über den Main Richtung Innenstadt Frankfurt, also neudeutsch: auf die Skyline von Mainhätten.
Aber ich kann nur in eine Richtung blicken. Die andere Richtung ist ein Gewirr von Glas und Spiegeleffekten und Büros und Menschen in geistigen Legebatterien. 9 Stockwerke hoch und mehrere hundert Meter lang. Drei Hochhäuser im Dreieck zueinander aufgestellt.
Die anderen haben es nicht so gut. Völlig von verglasten Wänden umgeben besteht soviel Privatsphäre wie auf einer öffentlichen Versteigerung. Tageslicht ist eher selten, der Deckenfluter Standard. So tief reicht der Sonnenschein nicht. Aber immerhin ist es ja warm und trocken.
Wenn ich meinen Blick nach draußen richte, sehe ich viele andere Bürotürme, die meistens auch noch einiges höher sind, als mein bescheidenes Domizil im 9. Stockwerk. 40fach gestapelte Leistungserbringer übereinander sind keine Seltenheit. Und dazwischen, hingeduckt, einige wenige noch verbliebene Wohnhäuser. Sieht aus als würden sie die neuen, in Stahl und Beton gegossenen Götter in aller Bescheidenheit und sehr duldsam anbeten.
Götter werden ja gerne von Menschen gemacht. Aber nicht lange von diesen beherrscht. Spätestens wenn die Priester im Allerheiligsten ganz oben unerreichbar geworden und verschwunden sind, können wir uns der Geister nicht mehr erwehren, die wir da gerufen haben. Dazu muss man nicht Zauberlehrling sein.
Um mir eine Übersicht zu verschaffen, müsste ich nur ein Stockwerk höher kommen. Das sollte nicht allzu schwierig sein, denn die Jungs von der Glasreinigung turnen auch immer wieder auf dem Glasflachdach herum. Vertrauen dabei auf die Berechnungen der Statiker, die ein Glasdach über drei Hochhäuser gezogen haben, die in der Form eines Dreiecks zueinander aufgestellt sind. Das ergibt einen riesigen überdachten halbdunklen Innenhof. Das verstärkt auch ganz prächtig den Eindruck von Legebatterien. Aber sie treten trotzdem vorsichtig auf, man weiß ja nie.
Wenn ich zu den Jungs da aufs Dach mitkäme, was die sicher sehr belustigend fänden, würde ich zunächst einmal frieren. In meinem schicken Büro-Anzug und den dünnen schwarzen Schuhen. Da oben hätte ich aber zumindest einen Über- und Rundumblick. Die Kollegen, die mich von unten durchs Glasdach sehen könnten, würden mich wahrscheinlich für völlig durchgeknallt halten. So etwas hat ja schließlich noch nie einer, und wo kämen wir denn da hin wenn jeder. Bei dem haben wir es ja schon immer gewusst. Wenn das der Chef sieht. ...
Wie diese Kurzgeschichte weitergeht, lesen Sie im 2011 erschienenen Buch der Autoren Wilfried Rottler und Thomas Bierling: "Sinneswandel: Kurze Kurzgeschichten. Gedachte Gedanken". Auf 144 Seiten lesen Sie scharfsinnig pointierte und herrlich böse Texte der beiden Autoren. Lesen Sie auch unsere Rezension zu diesem Buch. Der Kurzgeschichten-Band ist im Buchhandel erhältlich.
© "Schöne Aussichten": Leseprobe mit freundlicher Genehmigung von Wilfried Rottler
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