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Ein halbes Jahrhundert ist man alt – vielleicht noch etwas drüber. Das ist doch schon eine ganze Menge. Jedenfalls klingt es nach viel. Vielleicht nicht gerade nach "alt", aber eben doch nach "nicht wenig". Aber wie man es auch sehen möchte, wer über die Fünfzig ist, gehört einer ganz besonderen hybriden Gruppe an.
Unseren Ursprung haben wir in der Mitte des vorigen Jahrhunderts, nicht lange nach dem Zweiten Weltkrieg.
Unsere Eltern und Großeltern hatten ihn erlebt, und sie kannten auch die Not der Nachkriegsjahre. Wir wurden in die Euphorie dieser Zeit geboren, als es nur noch vereinzelt Trümmergrundstücke in der Stadt gab und niemand mehr hungerte. Die Geschäfte waren längst wieder voll, auf den Straßen fuhren massenhaft Autos.
Berühmtheiten wie den Messerschmitt Kabinenroller, den Borgward, die Isetta oder das Goggomobil haben wir noch mit eigenen Augen gesehen. Die Busse hatten noch Schnauzen und es gab Schaffner, die sich geschickt an den Deckenschlaufen von Platz zu Platz hangelten, um das Fahrgeld zu kassieren. Vespa-Roller in allen Farben schlängelten sich durch den Verkehr, und der letzte Schrei waren Fahrräder mit Hilfsmotor.
Dieser legendäre Nierentisch und die dazugehörenden Cocktailsessel waren noch nicht Kult, sie waren harte Realität. Genauso wie diese in verschiedenen Pastellfarben gehaltenen Schwedenküchen aus massivem Holz. Die gefallen mir, nebenbei bemerkt, immer noch. Es war die Zeit der Musiktruhen, die jeder bessere Haushalt aufzuweisen hatte. Recht monströse Teile, die wie ein Möbel aussahen und Röhrenradio und Plattenspieler beherbergten. Der Deckel konnte aufgestellt werden wie bei einem Flügel und verbreitete gediegene Stimmung. Die Platten waren schon aus Vinyl, der Schellack war in den Rang eines Liebhaberobjektes aufgestiegen.
Junge Männer kamen daher wie James Dean oder Peter Kraus, trugen Lederjacken mit Strickbündchen und ein schiefes Lächeln unter der sorgsam frisiergecremten Frisur. Mädchen sahen aus wie Cornelia Froboess, versuchten ihre Haarstruktur mit einem Verfahren, das sich "toupieren" nannte, zu zerstören und stärkten ihre Petticoats. Später sahen sie dann aus wie Doris Day, nach entsprechendem Training. Sonderbarerweise war die Damenstrumpfhose noch nicht erfunden worden, man trug noch Hüfthalter mit Strapsen, wenngleich sich die Nylons von der vertrackten Naht befreit hatten.
Als wir eingeschult wurden, hatten wir noch eine Schiefertafel und eine Schwammdose im Lederranzen – Jungens hatten meist einen mit zwei Schnallen an der oft mit einem Wildpferd verzierten Lasche, Mädels trugen Pilze oder Blumen und hatten einen Verschluss. Das wurde sehr genau genommen, mit der Geschlechtertrennung damals. Man hatte gerade die Koedukation an den Schulen durchgesetzt, und wir Kinder mussten sehen, wie wir damit zurechtkamen.
Im Prinzip hielt man sich voneinander fern.
Dann überschlugen sich die Ereignisse, plötzlich war der Mond entzaubert durch die Amerikaner. Musik-Kassetten lösten die Plattenspieler ab und die Haare wurden länger. Die Beatles waren auf einmal passiert, und das veränderte wirklich alles. Die Sache mit den Geschlechtern veränderte sich von nun an dramatisch. Ältere Leute beschwerten sich darüber, dass man sie nicht mehr auseinanderhalten könne, die "Gammler". Daran war etwas Wahres, denn die Uniform dieser Zeit waren Jeans und lange Haare. Bei beiden Geschlechtern. Bei den Jungs kamen zuweilen Bärte und extrem lange Koteletten hinzu, was die Unterscheidung zuweilen beträchtlich erleichterte.
Nach den Hippies kamen die Popper, die "Neue Deutsche Welle" schwappte an den Strand der Eitelkeiten, und die Models wurden immer dünner. Regierungen wechselten, Staaten verschwanden, teilten oder vereinten sich. Dann läuteten die Homecomputer eine neue Ära ein und wieder veränderte sich alles. Das Monopoly verschwand in einer Ecke, wo es bis zum nächsten Flohmarkt vor sich hin staubte.
Superman und Batman mussten sich neuen Gegnern stellen, die zwar harmlos aussahen, aber kaum zu besiegen waren: die Mario Brothers. Dicke kleine Handwerker in Latzhosen und Mützen regierten nun die Kinderzimmer. Von da an ging es mit Riesenschritten auf das Internet zu, den Segen und Fluch des neuen Jahrtausends. Und wir haben dieses aberwitzige Rennen vom Start in den fünfziger Jahren bis heute mitgemacht.
Wir kennen die Beatles und Tokyo Hotel, wir kennen Kirk Douglas und Johnny Depp.
Wir können mit dem Waschzuber und mit einem Hightechmodell waschen. Wir können mit einem Holzofen und mit der Mikrowelle umgehen. Wir kommen mit dem PC klar und wir können mit dem Füller seitenlange Briefe schreiben. Wir hören Musik vom Band und vom MP3 Player. Wir haben Fotos im Album und als Datei.
Wir kennen den "Blauen Bock" und "Deutschland sucht den Superstar" (man kann mit beidem nicht wirklich angeben). Wir können Holz hacken und mit Solarenergie heizen. Wir flogen mit der Orion und der Voyager.
Eigentlich sind wir richtige Allrounder, wir Mittelalterlichen. Und vielleicht gibt es uns noch, wenn der Strom oder das Internet einmal wirklich abgeschaltet wird. Das wäre ein Glück für die anderen – denn wir verstehen eine ganze Menge von alternativen Methoden.
© "Lebendiges Mittelalter": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2010. Bildnachweis: Zeit Ziffernblatt (Illustration), CC0 (Public Domain Lizenz).
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