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"Vati, ist das der böse Wolf, der das Rotkäppchen gefressen hat?"
"Nein, mein Kind, den hat der liebe Jäger doch totgemacht, das weißt du doch!"
Was ihr Menschen euren Kindern alles von klein an einwölft, das stinkt wie ein Fuchsbau. Wollt ihr denn, dass sich eure Kinder mal in der Welt zurechtfinden, oder sollen sie sich immer wieder verirren? Blöder Kram! Heb's Bein drüber!
Was man so alles hinter seinem Zoogitter zu hören kriegt! Manchmal meint zwar ein Kind auch, ich sei ein liebes Hündchen, aber meistens werde ich doch mit dieser oft verballhornten Geschichte in Verbindung gebracht. Dabei kann doch kein Mensch wissen, was wirklich geschehen ist, außer dem Jäger. Und der hat bestimmt nicht Alles so erzählt, wie es wirklich war.
In jenen Zeiten war die Jagd schlecht und auf den Abfallhaufen der Menschen wenig zu finden. An dem besagten Morgen war ich weder satt noch hungrig und schlich nur so durch den Wald. Da sah ich meinen Erzfeind, den Jäger, hinter einem Gebüsch lauern. Seltsamerweise beobachtete er aber den Weg, den kein Stück Wild bei Tag betreten würde. Ich wollte sehen, worauf er lauerte, und bewegte mich in guter Deckung längs des Weges.
Schließlich kam ein Menschenjunges auf dem Weg daher. In diesem Augenblick beschlich mich eine alte Wolfskrankheit, die schon die Vorfahren der Hunde ihre Freiheit gekostet hat, nämlich der Wunsch nach Frieden mit den Menschen. Ich musste einfach auf das Kind zugehen. Es hatte mich wohl zunächst für einen Hund gehalten, denn es zeigte erst Angst, als ich unüberlegterweise zur Begrüßung mein damals noch beträchtliches Gebiß zeigte. Schnell legte ich mich auf den Bauch und den Kopf auf die Pfoten, um kleiner auszusehen.
"Tust du mir auch nichts?" fragte das Kind in der Menschensprache, die ich heute viel besser verstehe als damals. Der Sinn war jedenfalls klar, und so rollte ich mich auf den Rücken und legte die Pfoten an, wie es eben ein Wolf tut, wenn er nicht mehr kämpfen will. Das schien das Kind zu verstehen, denn erst vorsichtig und dann immer zutraulicher begann es mich zu graulen und zu zausen. Das tat so wohl, dass ich dieses Menschenkind für eine Weile als Rudelgenossen betrachtete.
Aber da war das Gefühl von Gefahr. Der Jäger! Lauerte er auf dieses Mädchen? Was wollte er mit ihm tun? Wenn es so war, dann musste das, was er vorhatte, etwas für Menschen sehr Wichtiges sein, wovon wir Söhne der Natur nichts verstehen. Sich gegenseitig fressen, so was tun Menschen nicht, diese Verschwender. Heb's Bein drüber!
Na ja, jedenfalls musste dieses Kind vom Weg runter. So fing ich ein Fangspiel mit ihm an, und es folgte mir immer williger durchs Unterholz, bis wir die Stelle, an welcher der Jäger lauerte, weit hinter uns hatten. Irgendwann wollte es nicht mehr laufen und begann einfach Pflanzen aus dem Boden zu reißen. Auch so eine Unnatürlichkeit der Menschen, die ich nicht verstehe, denn es machte keine Anstalten, das Zeug auch zu fressen. Aber wie es sich so vorbeugte, zeichneten sich die hinteren Laufmuskeln unter seinem Kleid ab, gutes, zartes und saftiges Fleisch, mir lief das Wasser im Rachen zusammen. Aber Rudelgenossen frißt man nicht, so lange sie noch lebensfähig sind! Dass mich hier trotzdem die Fresslust gepackt hatte, brachte mich so durcheinander, dass ich einfach rennen musste, um meine tierische Einfalt wiederzugewinnen.
Bald schlug mir ein Duft von Menschenfutter in die Nase, dass ich ihm folgen musste, weil meine Magensäfte ohnehin schon in Bewegung waren. Ich kam an eine kleine künstliche Menschenhöhle. Die Tür stand einen Spalt breit offen. Ich schob sie mit der Schnauze auf und sah nun, wo der Geruch herkam. Aus einem schwarzen runden Ding, das eine rappeldürre alte Menschin an einem kurzen Stock in der Hand hielt. Sie stellte es ab, setzte irgendwas, das aussah wie zwei große Tautropfen, vor ihre Augen und schaute auf mich herunter. Dann fing sie ohrenquälend in hohen Tönen an zu schreien.
"Raus aus meiner Küche, du ekliges Vieh!" muss es nach meiner Erinnerung an damals und meiner Sprachkenntnis von heute geheißen haben.
Das war schon schlimm genug, aber dann holte sie noch so ein Ding, wie es der Wärter benutzt, wenn er meine Häufchen mitnimmt – weiß der große Jäger, was er damit macht, er ist ganz wild drauf – ja, und damit schlug sie auf mich los. Ich wich rückwärts aus, stieß dabei aber gegen die Tür. Die fiel zu, und ich war gefangen. Hier gab es keine Verwirrung. "Schütze deinen Körper und dein Leben!" das ist der Befehl des großen Jägers in jedem Lebewesen.
Mein Körper flog von selbst los. Ein sauberer Gurgelriß, und die Ohren hatten Ruhe. Ja, und dann fraß ich das Menschenfutter bis zum letzten Bissen, obwohl mir dabei Nase, Zunge und Pfoten ganz heiß wurden. Es schmeckte wie noch nie in meinem Wolfsleben. Aber das ist auch das Letzte, was ich weiß. Ob ich dann noch ein wenig an der Alten rumgenagt habe? Heb's Bein drüber! Sie war grätendürr, aber man ist ja auch kein Verschwender. Also, schon möglich, aber ich habe keine Erinnerung daran.
Ob dann das Menschenjunge, das ich unterwegs getroffen hatte, reinkam und ohrenquälend wie ein Schwarzspecht losquäkte, dass ich auch ihm an die Kehle musste? Wenn hinter ihm die Tür offen war, wäre ich bestimmt weggelaufen. Es ist möglich, dass ich das Kind umgebracht habe, aber ich habe keine Erinnerung daran und finde es nicht wahrscheinlich. Es heißt, wenn man in großer Gefahr war oder gegen sich selbst gehandelt hat, kann die Erinnerung aussetzen. Schon möglich. Schließlich müsste ich ja einen Rudelgenossen, der noch gesund war, getötet haben. Aber, könnte es nicht auch ganz anders gewesen sein?
Unsere Empfehlung: Der Autor Friedrich Treber bietet mit seinen Erzählungen, Essays und Gedichten viele Augenblicke zum Innehalten. Die Leserinnen und Leser werden zum Nachdenken über die Welt angeregt und erfahren (vielleicht) auch die ein oder andere eigene Wahrheit. "Und das Wort ward Stein" (Mitte 2022 erschienen) gibt es als gebundene Ausgabe (177 Seiten) und auch als E-Book.
So, dass der Jäger, als das, worauf er lauerte, nicht kam, zu dem Haus ging, um nachzusehen, ob es auf einem anderen Weg dahin gekommen war. Beim Lauern am Fenster entdeckte er dann mich, und – heb's Bein drüber! – brannte mir eins aufs Fell, dass ich es bis heute noch spüre. Später mag dann meine Spielgefährtin von vorher gekommen sein. Jetzt konnte der Jäger mit ihr machen was er gewollt hatte, was immer das auch gewesen sein mag. Und danach hat er sie wohl umgebracht. Tote erzählen ja nichts! Mit einem toten Wolf konnte er sich dann gut herausreden. Einem Wolf trauen die Menschen alles Böse zu. Auch wenn ihresgleichen zehnmal Schlimmeres verüben. Und das nicht einmal, weil das in ihnen wohnende Gesetz sie zwingt, sondern sie planen es sogar mit Willen voraus.
Auf einem Abfallplatz wachte ich zerschunden auf. Mein Fell hatte viele kleine Löcher, deswegen hatte man mir es nicht über die Ohren gezogen, aber ich lebte! Weil mir das Jagen schwerfiel, übte ich mich darin, Köder aus Fallen zu klauen. Aber dann schnappte eine Falle zu früh zu, und seitdem bin ich hier. Mein Fressen brauche ich hier nicht zu jagen, das ist eine bequeme und sichere Sache. Aber oft träume ich von Wäldern und Wiesen zum Rennen und Jagen und von einem wärmenden und schützenden Rudel. Gib mir, großer Jäger, was du willst, ich will es nehmen, wie es kommt. Was bleibt mir auch sonst übrig? Heb's Bein drüber! ... Lesen Sie hier mehr von Friedrich Treber
© "Ich war der böse Wolf": Eine Jäger-Wolf-Erzählung von Friedrich Treber. Hören Sie Musik und Literatur von Friedrich Treber auf Spotify. Bildnachweis: Raubtier Wolf, CC0 (Public Domain Lizenz).
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