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Mit Miep Gies ist die letzte Verbindung der Geschehnisse um Anne Frank zur Gegenwart abgebrochen – das Leben im Versteck in der Prinsengracht ist jetzt nur noch ein Stück Geschichte. Miep Gies war die Frau, die im Zweiten Weltkrieg Anne Frank, ihre Familie sowie einige andere Personen in ihrem Versteck mit dem Notwendigsten versorgte.
Aber das Tagebuch der Anne Frank wird eines der anrührendsten Dokumente, die wir aus jener dunklen Zeit kennen, bleiben. In den Aufzeichnungen des Mädchens spielen Krieg, Morde und andere Gräueltaten so gut wie keine Rolle, wahrscheinlich macht es das umso schlimmer für den Leser, der ja weiß, wie es enden wird.
Ob es etwas mit der Persönlichkeit gerade dieses jungen Mädchens zu tun hat, dass die Schilderungen der selbst auferlegten Gefangenschaft so eindringlich sind, ist unwichtig. Anne, die eine Notwendigkeit des Versteckens durchaus versteht, beobachtet ihre auf winzigste Größe geschrumpfte Umwelt sehr genau und eindringlich.
Ihr Kosmos ist sehr beschränkt, das heranwachsende junge Mädchen ist gezwungen, mit mehreren Menschen, die sie sich nicht aussuchen konnte, auf engstem Raum zu leben. Und es ist nicht nur die Enge, es sind die strengen Sicherheitsregeln, die aufgestellt werden müssen, um eine Entdeckung zu vermeiden. Absolute Stille muss zu bestimmten Zeiten herrschen, da sich in den darunterliegenden Kontorräumen den Tag über Menschen aufhalten.
Es darf nur das Allernotwendigste gesprochen werden, und das nur im Flüsterton. Gänge zur Toilette müssen aufgeschoben werden bis zum Abend, wenn das Kontor geschlossen ist und niemand sich im Haus befindet. Die Besuche von Miep Gies sind nicht ungefährlich, regelmäßige Gänge könnten auffallen in einer Zeit, in der jeder jeden argwöhnisch beobachtet. Obwohl das Leben der jüdischen Bürger zu jener Zeit schon durch immer mehr Beschränkungen und Verbote durch die Besatzer reglementiert ist und man sich an vieles gewöhnt, ist die bis in die kleinsten Dinge des täglichen Lebens reichende Beschneidung der Freiheit kaum nachvollziehbar.
Die acht Personen im "Achterhus" lavieren nach recht kurzer Zeit alle am Rande eines Nervenzusammenbruchs dahin. Anne, die sich in der Pubertät befindet und unter anderen Umständen ein völlig konträres Leben mit Freundinnen und Schwärmereien führen würde, leidet unter der räumlichen und vor allem der psychischen Enge am meisten. Sie ist sehr intelligent und kreativ begabt, aber sie stößt jede Sekunde ihres Lebens an Grenzen.
Es ist anzunehmen, dass man vieles vor ihr verschweigt, aber das sensible Mädchen spürt, was um sie herum vorgeht. Manchmal schreibt sie wie eine kleine Weise, die lange vor ihrer Zeit gereift ist, manchmal sieht man den zickenden Teenager in ihr. Aber dass sich ihr zurückgehaltenes Leben Bahn brechen will, ist unverkennbar. Sie gerät in eine Fehde mit ihrer Mutter und einer Mitbewohnerin, verliebt sich irgendwann in deren Sohn. Sie sucht Zuflucht beim Vater, zu dem sie ein besonderes Verhältnis hat.
Die Intensität, mit der Anne die Tagesabläufe und die täglichen Geschehnisse beschreibt, macht deutlich, wie sehr sie eingeschränkt ist. Zu irgendeinem besonderen Tag bringt Miep Gies ihr ein Geschenk – Schuhe mit Absätzen. Das Mädchen ist selig damit, diese Pumps sind ein Stück Leben, das von außerhalb kommt und ebenso Symbol für ein normales Leben ist, wie für etwas ganz besonderes.
Diese ersten hohen Schuhe, die Anne besitzt, sollte sie bei einer Tanzstunde oder einer Geburtstagsfeier tragen, vielleicht bei einem Theaterbesuch mit ihren Eltern. Aber sie trägt sie in ihrem Gefängnis und streift mit ihnen ein Stück Freiheit über. Ein Stück Erwachsen werden, das ihr verwehrt bleiben wird. Das ist eine der anrührendsten Beschreibungen im Tagebuch der Anne Frank. Die unschuldige Freude über etwas lang Gewünschtes, die trotz der Umstände aufkommt.
Miep Gies beschreibt in ihrem Buch diesen Abend, die Idee zu diesem besonderen Geschenk war ihr spontan gekommen. Sie wusste einfach, dass es das Richtige war.
Im Zweiten Weltkrieg wurde das Leben vieler Kinder abrupt beendet – sei es, weil sie gewaltsam oder durch die Entbehrungen starben, oder weil sie plötzlich erwachsen werden mussten angesichts der Umstände. Aber Anne Frank befand sich lange in einer Art Zwischenreich durch die Zeit im Versteck. Von ihrem alten Leben war sie ebenso getrennt wie von einem neuen. Dass es kein Leben geben würde, wusste sie nicht. Das weiß aber der Leser, und so gewinnen die Beschreibungen der Belanglosigkeiten des Miteinanders eine völlig andere Bedeutung, erst recht die mitunter bestürzend reifen Gedanken, die Anne niederschrieb.
Kaum einer, der das Tagebuch der Anne Frank gelesen hat, konnte wohl dem Drang widerstehen, der Geschichte in Gedanken ein anderes Ende zu geben. Wenn das Versteck im Achterhus nicht verraten worden wäre und alle überlebt hätten ... was für eine Frau wäre Anne Frank geworden? Es ist wohl so, dass man sie gerne kennengelernt hätte.
Von wem die Gemeinschaft nun wirklich verraten wurde, ist niemals geklärt worden. Das ist auch nicht wichtig, denn die Geschichte, die wir von Anne Frank und Miep Gies so gut kennen, ist neben ihrer Tragik vor allem eine Heldengeschichte. Eine mit richtigen Helden, die entweder nicht wussten, dass sie welche waren, oder gar keine sein wollten, so wie Miep Gies es immer betont hat.
© "Miep Gies: Das ganz normale alltägliche Grauen": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2010. Bildnachweis: Alte Handschrift, CC0 (Public Domain Lizenz).
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