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Auf den Straßen der Republik tobt das Chaos – wer irgendwie kann, bleibt im Haus. Streugut ist praktisch über Nacht zum begehrtesten Artikel geworden und Händler, die noch irgendwo ein paar Säcke gehortet haben, schlagen über fünfzig Prozent drauf.
In den Supermärkten wird das Speisesalz knapp, weil die Regel "Salz ist nun mal Salz" schnell aufgestellt wurde. Ganz pfiffige Bürger benutzen Katzenstreu – kein gebrauchtes natürlich – denn das Zeug verhindert zumindest, dass jemand stürzt.
Außerdem erinnert sich der eine oder andere an Omas Tricks, die manchmal verblüffend wirksam sind. So schwinden etwaige Sägemehl-Vorräte rasant, denn auch damit kann Glatteis "entschärft" werden. Verwöhnt durch die vergleichsweise milden Winter der letzten Jahrzehnte ist für die Bürger dieses Schneeaufkommen nicht gerade positiv belegt. Es gab kaum ein weißes Szenario in den Städten, der Winter zeigte sich eher matschgrau und trüb. Auf dem Land sah das zwar anders aus, aber so richtig lange blieb das Zeug nicht liegen.
Kaum ein Kind verfügt noch über einen Schlitten, denn den konnte man in den Wintern kaum benutzen. Jetzt sieht das anders aus, und die Kinder haben auf jeden Fall ihren Spaß. Die Autofahrer finden die Sache weitaus weniger lustig. Vor allem die nicht, die glaubten, auf Winterreifen verzichten zu können.
Aber wenn man darüber nachdenkt, ist das Bild, das sich jetzt auch in der Stadt bietet, genau das gleiche wie auf diesen Weihnachtspostkarten oder in vielen Bilderbüchern. Weißbemützte Dächer, Schneemänner, Schneeballschlachten ... so richtige Winteratmosphäre. Zugegebenermaßen wäre das in der Advents- und Weihnachtszeit stimmiger gewesen – also echter Schnee nur auf dem Adventskalender? Nur zum Ansehen und als Symbol auf Postkarten?
Zweifellos würden alle, die zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort sein müssen, auf diese weiße Pracht verzichten, wenn sie die Wahl hätten. Denn das schönste Eisglitzern nützt nichts, wenn man zu spät zur Arbeit kommt und mehr Mühe aufwenden muss für die normalen Tagesabläufe. Die beschaulichen, halb im Schnee versunkenen Dörfchen mit dem Zwiebelturmkirchlein sollen lieber Symbol oder in ihren Weihnachtspyramiden aus dem Erzgebirge bleiben – in der Realität bedeuten sie eher Unbequemlichkeit. Genau wie echte Kerzen am Weihnachtsbaum, denn die stehen auch nur in den Bilderbüchern gerade.
Der Kerzenhalter mit Clip, der eine reale Stearinkerze wirklich in der senkrechten Lage hält, ist noch nicht entwickelt worden. Der exakt gewachsene Tannenbaum übrigens auch nicht, weswegen viele auf den moderaten künstlichen Baum ausweichen, was wiederum umwelttechnisch vieles für sich hat und die traurigen Bilder von nadellosen trockenen Weihnachtsbäumen vermeidet, die an den Sammelstellen auf ihren Abtransport warten, und in deren Ästen sich manchmal ein Lamettastreifchen verfangen hat. Die Nadeln finden sich noch Monate später im Staubsaugerbeutel.
Für Menschen, die gezwungen sind, in einer unnatürlichen Geschwindigkeit zu leben, die ihnen von äußeren Umständen aufgezwungen wird, sind Symbole zwangsläufig Ersatz für Gelebtes. Und mit zunehmender Schnelligkeit wird das Symbol zum Klischee. So kann es passieren, dass die herrliche Winteratmosphäre als real erlebtes Naturereignis eher beängstigend wird. Niemand ist mehr wirklich darauf vorbereitet.
Ein weiteres zum Klischee mutiertes Symbol ist das Herz, das eigentlich das ganze Jahr über Saison hat. Die Herzform findet sich überall – als Pralinenschachtel oder Geschenkpackung für Kölnisch Wasser, als Seife, Konfekt oder Kissen. Im Internet gibt es eine riesige Maschinerie, die es erlaubt, bunte Herzchen als Gruß an Freunde zu schicken – Webseiten sind überschwemmt davon. Eigentlich ein Symbol für Liebe oder Freundschaft, wird das Herz zum Streuartikel und benutzt wie Konfetti. Schnell eins davon geschickt als Ersatz für wirkliche Anteilnahme oder Freundschaft beruhigt das Gewissen, und man hat in Sachen sozialer Interaktion sein Soll erfüllt.
Wirkliche Zuwendung kostet Zeit, also wird ein Blankoscheck weitergereicht. Und man hat auch die Oma lieb, nur hat man nicht die Zeit, um ihr das so richtig zu zeigen – also "zeigt man Herz". Oma wird schon wissen, wie das mit den Weinbrandkirschen im Herzkarton gemeint ist. Und die Kinder wissen natürlich auch, dass sie einem wirklich wichtig sind, schließlich werden sie verwöhnt und beschenkt. Bis dann die Realität zuschlägt und man verwundert dahinter kommt, dass sie es eben nicht wussten.
Großmutter mochte das klebrige Zeug eigentlich nie und hat es immer sofort an die Nachbarin weiterverschenkt, nachdem sie sich darüber gegrämt hat, dass nie jemandem etwas anderes eingefallen ist. Ein gemeinsamer Ausflug vielleicht, ein Nachmittag, an dem die Familie zusammen ist wie früher. Und die Kinder haben den Zusammenhang zwischen elterlicher Liebe und teuren Geschenken auch nie wirklich erkannt. Dazu kannten sie ihre Eltern eigentlich nicht gut genug. Die Zeit war immer so kurz und vom Alltagsstress dominiert.
Und verwundert wird Entfremdung registriert, obwohl das nicht das richtige Wort ist, denn richtig vertraut war man sich in der ganzen Zeit eigentlich nie.
Auf Menschen, die keine Vorstellung davon haben, richtig zu leben, kann die einbrechende Realität ziemlich verstörend wirken. Sei es ein realer Winter, seien es reale Gefühle oder auch die in idyllischen Vorstellungen verherrlichte Natur. Jeder liebt sie, aber jährlich werden Hunderte von Prozessen angestrengt mit dem Zweck, den Gockelhahn des Nachbarn schnabeltot zu machen. Der Anblick einer Wespe ist geeignet eine Hysterie ausbrechen zu lassen, und Kinder werden durch dauernde Pfuirufe meist erfolgreich negativ auf alles Interessante und Lebendige geprägt. Als Ersatz dafür bringt man ihnen Hygiene bei – und das in sehr hoher Dosierung.
Dafür kann man dann im Kino tolle Filme in völlig lebensechter 3-D-Technik sehen. Fast wie im richtigen Leben ... also fast.
© "Winterdienst – Das Herz als Streuartikel": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2010. Bildnachweis: Winter in der Stadt, CC0 (Public Domain Lizenz).
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