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Der Autor Christoph Scholten lebt und arbeitet in Berlin. Seine seit 2005 mit wachem Blick und feiner Ironie erzählten "Pariser Geschichten" und "Berliner Geschichten" haben einen stetig wachsenden Leserkreis gewonnen. 2014 legte er seinen ersten Roman "Etappenfahrt" vor. Mit "Mord im Süpermarkt" erschien 2016 sein erster Kriminalroman, der mit dem nachfolgend vorgestellten Buch "Mord mit Sauerkraut" seine Fortsetzung findet.
Es ist ein zugiger Dienstagabend an der Straßburger Place du Corbeau, als der Restauranttester Xavier Tavernier tot im Fischbecken hinter dem neuen Lokal Boire & Pêcher aufgefunden wird, den Mund voller Sauerkraut. Die Ermittlungen von Kommissar Antoine Dupont ziehen sich hin. Der junge Wirt René Winands und sein Freund Orhan Erkin spielen eigenwillige Musik, fahren altmodische Räder – und ermitteln auf eigene Faust.
Die Taschenbuch-Ausgabe von "Mord mit Sauerkraut" umfasst 150 Seiten und wurde im Juni 2020 veröffentlicht (ISBN 978-3960040613). Herausgeber ist der Verlag BookOnDemand vabaduse. Neben zwei Zeichnungen vom Autor selbst hat die Illustratorin Derya Sakin zu jedem der siebzehn Kapitel weitere Grafiken beigesteuert.
"Salz, Pfeffer, Kümmel und ein Hauch Wacholder. So also schmeckt es, wenn der Tod naht."
Während er dies denkt, haben kräftige Hände seinen Kopf schon eine Minute lang tief in die trübe Lake gedrückt. Er will nicht Hals über Kopf in einem Sauerkrautfass sterben. Doch seine Hände bekommen den fest hinter ihm aufgebauten Gegner nicht zu packen. Können den zangenartigen Griff um seinen Nacken nicht lösen. Er hämmert mit den Fäusten gegen das Holz des Fasses. Zieht sich einen Splitter ein.
Egal. Nur noch die Frage zählt: Hört jemand sein Trommeln und hilft ihm?
Nein, er schluckt Salzlake. Verschluckt sich. Würgt. Jede Faser seines Körpers weiß: Er stirbt, wenn er nicht sofort hochkommt. Wenn er hochkäme, würde er tief einatmen. Sich mit letzter Kraft aufbäumen. Und den Todfeind abschütteln. Ja, wenn. Er schweift ab. Wer ist sein Feind? Was hat er ihm getan? Er war immer für Ehrlichkeit und Anstand, das mag nicht jedem gefallen haben. Erst für die Ehrlichkeit gegenüber dem Fiskus der Republik, dann für den Anstand in der Gastronomie. Auch heute Abend hat er sich Notizen für eine Gastrokritik gemacht.
Vergeblich. Seine Sinne schwinden. Der letzte Gedanke gilt Maman und dem leicht nussigen Muskataroma ihrer abendlichen Umarmung. Dann wird er ruhig. Er sieht ein Licht. Da geht er hinein. ...
Straßburg, 5. März 2019. Um halb drei ist der Mittagstisch beendet. Die Gäste sind bedient und abkassiert. Sie haben die hell gedielte Stube des Boire & Pêcher verlassen. Gerade hat sich Stammgast Pedro Hamon wie üblich mit Salut la compagnie! zu seinem wöchentlichen Malkurs verabschiedet.
Zwei Stunden zum Essen und Ausruhen an der Place du Corbeau. Zu dieser Tageszeit pflegen René Winands und sein Freund Orhan Erkin an Lisettes Tresen zu hocken. Gemüsedunst hängt in der Luft. Bei einem leichten Gericht – Rhein-Sushi aus Lachs, Sauerkraut und Spinat – gehen René und Orhan die Reservierungen und das von Chefkoch Monsieur Bernard für den Abend geplante Menü durch.
Alles wie gehabt in der Straßburger Altstadt? Nein, Monsieur Bernard fehlt heute Nachmittag in der Runde. Sonst hätte er vielleicht eingeflochten, dass der von Souschef Alain Decressin soeben verwendete Fisch in Wahrheit gar nicht aus dem Rhein, sondern aus einem Nebenfluss geangelt wurde. Wo man im Rahmen eines Wanderfischprojekts Lachs aussetzt, sobald dieser das Reisealter erreicht hat. Womöglich hätte er noch weiteres Wissen ausgebreitet: Dass dieser Lachs aus einer Fischzucht in Saint-Louis am Oberrhein stammt. Dass dort schon zu Napoleons Zeiten gezüchtet wurde. Dass der Lachs dank Fischtreppen aber inzwischen auch im Rhein wieder vorkommt. Wo Hecht, Zander und Wels sich ohnedies wacker halten und den letzten Berufsfischern des europäischen Stroms Nahrung und Arbeit geben. Solche Ausführungen des Küchenchefs fallen diesmal aus. Denn Monsieur Bernard muss noch dringend zwei Springer für den Abend verpflichten. Aus der Küche dringt das vertraute Tacktacktack. Küchenjunge Tarek schneidet Gemüse. Oder, wie Monsieur Bernard sagen würde, er bereitet den Gemüseposten vor. Heute ein überschaubarer Posten. Denn die meisten Gäste werden Sürkrüt nehmen. Über dieses Wort stolpert Orhan beim Blick auf die Abendkarte:
"Sürkrüt? Klingt türkisch ..."
"... ist aber kein Türkisch, sondern Elsässisch. Und bedeutet Sauerkraut", sagt René.
"Also Zander mit Sauerkraut?", fragt Orhan.
"Ja, Fisch mit Sauerkraut kocht man hier gar nicht mal so selten, weiß René: Klar, elsässische Schlachtplatte geht nur mit Speck, Würsten und Rauchfleisch. Da kracht die Schwarte. Aber Monsieur Bernard sagt, dass Sauerkraut schon im 18. Jahrhundert mit Fisch gegessen wurde. Im Maison Stubzell gibt's das immer noch, und zwar täglich. Habe ich selbst auf der Karte im Schaukasten gelesen. Richtung Vogesen, ich glaube in Soultz, soll es sogar einen Metzger geben, der in seinem Resto Sauerkraut mit Fisch anbietet. Glaub mir, das läuft gut ... Monsieur Bernard hat für die nächsten Tage ein ganzes Fass Sauerkraut gebunkert. Steht hinten im Vorratsraum. Da duftet es vielleicht!"
Der große Name Maison Stubzell – ein wuchtiges, dunkles und sehr erfolgreiches Traditionsrestaurant mit Blick aufs Straßburger Münster – überzeugt Orhan mehr als alles andere. Er wird den Abendgästen das Gericht als herzhafte, urige Spezialität empfehlen. René ist gelernter Fischwirt, halb zu Ende studierter Betriebswirt und dank Mitteln aus einer Erbschaft frisch gebackener Restaurantbesitzer. Die Küchenequipe nennt ihn hinter vorgehaltener Hand Petit Patron. In der Küche benutzt man gern Spitznamen und scherzt übereinander. Das vertreibt die Hitze. René weiß, dass auch über ihn gewitzelt wird. Ist aber klug genug, sich nichts anmerken zu lassen. Seine Mutter Lu hat nach der Trennung vom Vater und dem Umzug von Paris nach Deutschland zuhause immer weiter Französisch mit René gesprochen. Das kommt ihm jetzt zugute. Ohne sehr gute Kenntnisse der Landessprache kommt man als Jungunternehmer in Frankreich nicht weit. Nicht einmal im Elsass, wo die Mehrsprachigkeit ebenso wie die Koch- und Esskunst als Teil einer eingeprägten Kultur gelten.
Orhan, Renés rechte Hand, wäre nach dem Ausstieg aus dem Berliner Polizeidienst fast in der Kreuzberger Fahrschule seines Onkels Mustafa versauert, hat aber noch die Kurve in die Wirtschaft bekommen. Neben Deutsch und Türkisch kann er Französisch und sogar ein wenig Elsässisch. Denn als Schulkind hat er die Sommerferien oft bei seinem Onkel Hakan in Sélestat verbracht hat. Onkel Hakan ist Makler. Er hat Orhan und René bei der Wohnungssuche geholfen. Jetzt sind sie Mieter eines bescheidenen Bungalows im nördlich von Straßburg gelegenen Hammsheim. Dort teilt ein Hügel die Vorstadt fein säuberlich in zwei Hälften. Vor dem Hügel wohnen Villenbesitzer auf üppigen Anwesen mit dem begehrten Blick auf die Stadt. Hinter dem Hügel siedeln dicht an dicht kleine Leute, die wie die beiden Freunde für ihr Auskommen noch strampeln müssen. Strampeln müssen die beiden buchstäblich: Mit dem Fahrrad sind es von Hammsheim bis zu ihrem Lokal gut 30 Minuten. Zurück etwas mehr, weil es bergauf geht. Alles in allem war es gar nicht mal geschwindelt, als René in den von der Bank für den Geschäftskredit geforderten Businessplan als Investitionsmotiv eintrug:
Gastfreundschaft: ein Restaurant von Freunden für Freunde.
Ein Geschäftsmodell, das auf menschliche Nähe baut. In der Küche raunt man sich indessen zu, die beiden Freunde würden einander von dubiosen Geschehnissen um einen Berliner Mordfall her kennen. Man wispert von Verstrickungen in private Ermittlungen. Wer verlässt schon freiwillig einen gemütlichen Studienplatz an der Uni und einen sicheren Posten bei der Polizei? Was an den Gerüchten wahr ist, weiß keiner. Und niemand fragt. Man ist diskret. Was die Küche nicht ahnt, denn Köche lesen keine Krimis: René und Orhan haben unter Künstlernamen eine Geschichte über den Fall veröffentlicht. Doch die ist von der breiten Leserschaft unbemerkt geblieben.
Immer noch kann René sein Glück kaum fassen, dass ein angesehener Chefkoch wie Monsieur Bernard bei ihm angefangen hat. Denn über dem Boire & Pêcher ist bisher kein Stern eines bekannten Restaurantführers aufgegangen. Doch Bernards Motto lautet:
"Das Maß der Küche sind keine Sterne, sondern der Geschmack des Chefkochs für das Wesentliche. Die Küche, wo dieser Geschmack regiert wie ein weiser König, wirbelt in köstlichen Spiralen und kann sich mit jeder anderen messen. Gutes Essen ist eine Macht. Macht gehört in bewährte Hände. Also, ich sage euch: Geschmack für das Wesentliche muss man haben!"
Mit dieser Überzeugung besteht der Arbeitsvertrag zwischen René und Monsieur Bernard aus ganzen zwei Absätzen. Absatz 1: Omakase. Das ist Japanisch und heißt, dass man sich beim Menü ganz in die Hand des Kochs begibt. Soll heißen: Er kann kochen, was er will, unabhängig von Renés Weisungen, wie die beiden Meister aus Tokyo und Osaka es durften, von denen Monsieur Bernard sich einst in Düsseldorf in japanischer Koch- und Verhandlungskunst unterweisen ließ. Absatz 2: Monsieur Bernard erhält jeden Monat den halben Gewinn. René musste diesen Absatz zweimal lesen, ehe er mit zusammengepressten Lippen unterschrieb. Monsieur Bernard lächelte ihm aufmunternd zu. Geschmack für das Wesentliche muss man haben.
Der Geschmack für das Wesentliche fängt täglich damit an, über eine lückenlose Kühlkette makellose Zutaten zu beziehen. Monsieur Bernard lässt es sich deshalb nicht nehmen, morgens zwischen vier und fünf Uhr selbst auf den Straßburger Großmarkt im Stadtteil Cronenbourg zu fahren. Dazu holt Orhan ihn mit dem Lieferwagen ab. Ausgeschlossen, den Einkauf etwa an den Souschef zu delegieren. Auf dem Beifahrersitz neben dem noch verschlafenen Orhan ruft der Küchenchef aus:
"Ich koche, was ich kaufe! Ich kaufe, was ich koche!"
Undenkbar, die Ware per Expressdienst vom Großmarkt Rungis bei Paris zu beziehen:
"Ich kaufe im Elsass!"
Orhan lenkt den Lieferwagen auf den Parkplatz des Markts. Er liebt den Wellblechtransporter, ein Citroen HY – im Volksmund Schweinenase. So stilvoll der Wagen, so hässlich ist der rissige Beton der Markthalle. Kein Baum. Keine Sitzbank. Kein plätschernder Brunnen. Alles, was einst den Fischmarkt im Herzen Straßburgs so heimelig machte, fehlt hier. Fast scheint es, als versuche der Großmarkt hinter dem pompösen Namen Markt von nationalem Interesse ein schlechtes Gewissen wegen seiner tristen Hülle aus den 1960er Jahren zu verbergen. Drinnen lärmt es. Marktschreier brüllen. Sägen kreischen. Kühleismaschinen dröhnen. Hubwagen rattern. Monsieur Bernard achtet nicht darauf. Gebannt schaut, schnuppert und tastet der beleibte Chefkoch so lange, bis er die beste Ware aufgetrieben hat. Heute hat es ihm der feste Leib des Zanders angetan. Vier große Kühlboxen voll nehmen sie in der Schweinenase mit. Wuchten ihren fangfrischen Inhalt in die Kühlkammer des Boire & Pêcher. Dort, neben dem Vorratsraum mit dem Sauerkrautfass, wartet der Fisch nun auf den Abend.
Passend zum rustikalen Essen planen René und Orhan die Hintergrundmusik. René schiebt die zuhause aufgenommene Kassette mit dem Aufkleber Musette mit Lisette in den Schacht und drückt auf Start. Erst Rauschen. Dann legen mit dem ersten Schlag des Trommlers Akkordeon, Vibraphon, E-Gitarre und Bass los. Die Mischung ist unverwechselbar. Wie die Freunde finden, hebt sie sich wohltuend vom ewigen Loungesound ab. Wie die Gäste die musikalische Abwechslung wohl aufnehmen werden? Wenn ihre Augen blitzen, ihre Gespräche unerwartete Wendungen nehmen und sie ihre Gläser zügig leeren, läuft es gut. Jedenfalls ist das erst vor drei Monaten eröffnete Lokal an diesem zugigen Dienstagabend ausgebucht. Überwiegend französische Gäste haben reserviert.
Als erste kommt die rothaarige PR-Agentin Veronique Tisseur, stellt René erfreut fest. Seit Wochen kehrt sie in wechselnder, nicht immer sympathischer Gesellschaft im Boire & Pêcher ein. Heute ist allein die zarte Collie-Hündin Romy an ihrer Seite. Vom Platz neben ihrem Stammnapf verfolgt Romy mit feuchter Nase und dunklen Augen hellwach, wie sich das Lokal füllt.
Sie riecht und sieht lauter Gäste, die zum ersten Mal in dieses Lokal kommen. Orhan kümmert sich um zwei kurzfristig angemeldete Gruppen. Gerade betreten neun Volleyballer aus Tel Aviv die Gaststube. Unter ihnen ein Geburtstagskind, wie Orhan von Lisette weiß:
"Ihr Trainer hat heute Morgen angerufen. Er sprach sehr durch die Nase. Wohl stark erkältet. Was verschlägt die Leute aber auch bei diesem Wetter vom Mittelmeer zu uns ins Elsass?"
Zuletzt empfängt er eine achtköpfige Gruppe aus Baden. Ärzte aus der Gegend um Freiburg im Breisgau. Verwöhnter Gaumen. Ein gewisser Hang zur Stämmigkeit. Auch sie haben erst am Vormittag reserviert. Damit ist das Boire & Pêcher bis auf den letzten Platz gefüllt. ...
© "Ein toter Restauranttester im Fischbecken": Für die Textauszüge aus "Mord mit Sauerkraut" sowie die Abbildung des Buchcovers danken wir BookOnDemand vabaduse, ein Imprint der Westarp Verlagsservicegesellschaft mbH, 09/2021.
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