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Wie definiert man Armut? Nun, zuerst einmal an ihrer Umgebung. Es gibt Bilder von Kindern, die irgendwo in Afrika Fußball spielen mit einem selbstgemachten Ball. Sie wohnen in einer Siedlung aus abenteuerlich zusammengebauten Hütten, sie sind die Kinder armer Leute und spielen barfüßig.
Es sieht so aus, als hätte niemand in der Siedlung mehr als er unbedingt zum Leben braucht – ein Fußball aus einem Laden ist da nicht drin. Die Kinder haben wahrscheinlich ihren Spaß – die Mütter wohl weniger, weil sie daran denken, wie sie mit dem auskommen sollen, das ihnen zur Verfügung steht. Das ist Afrika, denkt man. Hat nichts mit uns zu tun. Uns geht es ja gut, denkt man. Hier gibt es so etwas nicht – keine Townships mit ihren tausenden von verdellten Wellblechdächern auf schiefen Hütten.
Hier in Deutschland gehen alle durch die gleiche Einkaufsmeile – einige haben Tüten mit exklusivem Aufdruck dabei und gehen zu ihrem Wagen, der irgendwo in der Nähe steht. Andere kramen in den Taschen, um zu sehen, ob sie eine Kleinigkeit aus dem Ein-Euro-Shop mitnehmen können. Eine billige Lesebrille vielleicht, weil die alte nicht mehr reicht. Zum Optiker gehen können sie nicht – das ist unbezahlbar für sie. Sehhilfen werden von den Krankenkassen nicht mehr bezahlt, man muss eben sehen, wo man bleibt.
Zeitschriften, die außen an den Kiosken ausgestellt sind, zeigen bunte Bilder von der angesagten Herbstmode – chic und günstig. Schließlich kostet so ein bunter Rock in den Trendfarben, bei Dingsbums online zu beziehen, nur 80 Euro. Viele von den Vorübergehenden sehen da erst gar nicht hin – für achtzig Euro kleiden sie die halbe Familie ein – beim Discounter. Da kostet eine Jeans unter zwanzig Euro. Das ist immer noch zu teuer, aber es gibt da immer den Stand mit den reduzierten Klamotten. Die sehen meist auch danach aus, aber mehr geht nun mal nicht. T-Shirts für billige 2,95 sind der Renner. Quer über die Straße kauft gerade jemand eines für satte 28,50.
Eine Metzgerei hat gerade das Schaufenster neu dekoriert – Herbstkörbe mit Kürbissen und ein lachendes Plastikschwein mit Messer und Gabel, die im Rücken stecken. Kundschaft steht im Laden, es riecht appetitanregend. Zielstrebig steuern einige Passanten den Wursttempel an, andere gönnen dem Geschäft nicht einmal einen Blick – nicht, weil sie Vegetarier sind, sondern weil sie schon jahrelang nicht mehr in so einem Laden etwas gekauft haben und nicht einmal im Traum daran denken. Die Theke mit den Wurst- und Fleischwaren beim Discountmarkt ist ihre Anlaufstelle – wenn überhaupt. Allerdings gibt es da oft diese Sachen, die kurz vor dem Ablaufen sind und deshalb noch einmal stark reduziert. Man bekommt immer etwas, wenn man auch oft lieber nicht über die Herkunft nachdenkt. Aber auf den Tisch bringen muss man schließlich etwas – falls man sich noch so etwas wie eine Familie leisten kann. Wer allein ist, hat es vielleicht ein klein wenig leichter – er/sie muss nicht erklären, warum es schon wieder diese Billigsuppe mit dem abgepackten Brot und den wabbeligen Würsteln für 99 Cent im Glas gibt. Er/Sie kann das Essen auch einmal streichen.
Im Buch-Shop eilen Menschen mit satten drei Kilo Papier zur Türe – die angesagten Titel des Monats sind drin, dazu noch ein Geschenk für den Neffen. Da geht leicht ein Hunderter drauf – Bücher sind nicht wirklich billig. Eine ältere Dame steht an einer Gondel, betrachtet zwei Bücher. Sie legt eines weg, zögert und nimmt es dann doch wieder hoch. Sie kann sich nicht entscheiden, es ist wirklich schwierig. Aber einfach beide Taschenbücher zu je 9,90 Euro kaufen – auf den Gedanken kommt sie überhaupt nicht. Ihre Welt ist eine "Entweder-Oder-Welt". Entweder neue Schuhe oder ein neuer Pullover, entweder die Stromrechnung bezahlen oder die Waschmaschine reparieren. Da fällt die Wahl leicht – ohne Strom kann man die Maschine nicht benutzen.
Es gibt noch mehr "Entweder-Oder" – für die Woche einkaufen oder die fällige Impfung für den alten Hund. Fällt auch sehr leicht – der Hund ist wichtiger. Das ist auch sein Futter – man kann selber kürzer treten, weil man weiß, wieso. Der Hund würde das nicht verstehen. Jeden Tag etwas essen und dafür völlig einsam in der Wohnung sitzen ist lange nicht so wichtig wie die Freundschaft zu jemanden, den man schon viele Jahre kennt.
Weihnachten lauert auf der "Dies-oder-das-Allee" mit den schönen Schaufenstern und den Lichtern. Dem Hund könnte man nichts erklären – den Kindern WILL man nichts sagen über "Entweder-Oder". Man muss es allerdings viel zu oft tun. Morgens gehen die einen schnell zum Bäcker, um noch etwas für die Arbeitspause zu kaufen – andere haben diesen Laden längst aus ihrer Wahrnehmung gestrichen. Der Job bei der Zeitarbeitsfirma trägt nur die billigen Brötchen aus dem Supermarkt. Es gibt noch andere – diejenigen, die einfach so am Morgen loslaufen, um sich für kurze Zeit eins zu fühlen mit denen, die gebraucht werden – auch wenn sie zu Hause sitzen könnten, weil sie keine Arbeit haben und auch keine menschenwürdige mehr finden werden. Ein Job, der diesen Anspruch nicht hat, ist nichts für sie – Schichtplackerei für Dumpinglohn ist etwas, das sie nicht mehr leisten können, obwohl sie es gerne täten. Zu alt, zu krank und sowieso zu immobil.
Billige Tages-Cafés mit Stehtischen, wo man für 1,80 einen Becher Kaffee oder Tee bekommt, sind auch ein Teil vom "Entweder-Oder-Land". Man kann sich lange rumdrücken und dann wieder durch die Kaufhäuser schlendern. Daheim kann man solange die Heizung auf Minimum drosseln – die Kosten werden sonst unbezahlbar. Oder mit einem alten Armeeschlafsack um den Körper gewickelt auf der Couch sitzen und bei völlig ausgeschalteter Wärme fernsehen – die Lungenentzündung, die man sich wahrscheinlich dabei holt, ist nicht ganz so schlimm. Von den Zuzahlungskosten für Arzt und Apotheke kann man sich befreien lassen. Von den Heizkosten nicht. Außerdem ist es sowieso egal.
Wer noch so etwas wie Perspektive hat, entscheidet zwischen warmem Essen und warmer Wohnung. Und in dem Gebäude mit den vielen Zeitarbeitsfirmen gegenüber brennt die ganze Nacht über Licht.
© "Armut in Deutschland, dem Entweder-Oder-Land": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2012. Illustration: Thomas Alwin Müller, littleART.
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