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Heute Morgen ist mir Viktor begegnet. Er sah unverschämt gesund aus, hatte rote Backen und redete wie ein Wasserfall. Seine hässlichen Zahnlücken waren nicht mehr da und er spuckte auch nicht mehr beim Reden. Seine einstmals blonden Haare waren grau. Die blauen Augen, die mir einst so gut gefallen hatten musterten mich gleichgültig, während er sagte, er rauche und trinke nicht mehr. Er lebe in einem kleinen Ort in der Nähe und habe Arbeit. Und er habe eine Frau gefunden.
Meine Mutter hatte mir gesagt: "Viktor ist umgekommen, man sagt er sei 'ertrunken'. Die Leber hat nicht mehr mitgemacht." Deshalb hatte ich angenommen, Viktor sei gestorben. Wenn ich auf den Friedhof ging, nahm ich mir jedes Mal vor, sein Grab zu suchen. Ich wollte mich von ihm verabschieden. Es hatte aber keine Eile.
Während ich den neuen und mir doch so bekannten Viktor betrachtete, überlegte ich, ob meine Mutter mir diese Nachricht untergejubelt hatte, um mich davon abzuhalten, wieder Kontakt zu ihm aufzunehmen. Sie mochte ihn nicht und sie hatte ihre Gründe. Aber das konnte nicht sein, nach all den Jahren, die verstrichen waren, seit Viktor und ich uns gesehen hatten.
"Ach übrigens, mein Bruder ist gestorben, die Leber hat nicht mehr mitgemacht", sagte Viktor. Ich presste die Hand auf den Mund, um den aufsteigenden Lachreiz zurückzuhalten. Ein Röcheln kam aus meiner Kehle. Mein Kopf war zweifellos rot, mir war heiß.
Ich hustete. Man lacht nicht bei solch einer Nachricht. "Herzliches Beileid", zischelte ich. Viktor bemerkte nichts. Er war kein feinfühliger Mensch. Dann bot er mir an, mich nach Hause zu fahren. Und ich setzte mich neben ihn in seinen sauberen, rauchfreien Wagen. Es war das Erste Mal, dass er mich in einem Auto nach Hause brachte. Früher waren wir zusammen zu mir nach Hause gelaufen. Das war lange her.
Es war zu der Zeit, in der ich die Männer liebte und hasste. Wenn ich mich verliebte, war ich zuerst unglücklich, später glücklich und danach sehr unglücklich. Es war die Zeit, in der ich mit den Männern spielte und sie mit mir. Die Welt um mich war klein, konservativ, friedlich, aufregend und angenehm. Ich war sechzehn. Ich hatte keine wirklichen Sorgen. Viktor war groß und blond, hatte einen muskulösen Oberkörper, leichte O-Beine, eine zweifelhafte Vergangenheit und eine ebensolche Zukunft.
Er gefiel meiner Mutter nicht. Und noch hatte sie mir etwas zu sagen. Ab und zu brachte er mich von der Disco nach Hause. Wir hielten Händchen und küssten uns. Für meine Mutter Anlass genug, Viktor den Umgang mit mir zu verbieten. Ich war enttäuscht und verstand sie nicht. Aber Viktor und ich zogen unsere Konsequenzen daraus. Denn er kam wegen Diebstahls ins Gefängnis. Ich verliebte mich in Andere, was ihn nicht davon abhielt, als er wieder zu Hause war, dasselbe zu tun.
Später, in einer kalten Nacht, warf Viktor Steinchen gegen mein Zimmerfenster. Er wollte mir etwas mitteilen, wie er sagte. In Schlafanzug und Morgenmantel setzte ich mich mit ihm auf die kleine Bank in der Nähe unseres Hauses. Viktor wollte mich nach Berlin mitnehmen. Dort wollte er mit mir ein neues Leben anfangen, sagte er.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich andere Pläne. Ich wollte nicht nach Berlin, sondern zu Hause bleiben und einen Beruf erlernen. Viktor akzeptierte das. Er arbeitete weiter an seiner Karriere als Dachdecker, Gefängnisinsasse und Frauenheld. Ich wusste, er konnte nichts dafür. Er war in schlechten sozialen Verhältnissen aufgewachsen. Er hätte in unserer Stadt nie eine Chance gehabt.
Jahrelang hörte ich nichts von ihm. Ich heiratete, zog aus, bekam Kinder und trennte mich später von meinem Mann. Ich lebte nicht mehr in meiner Heimatstadt. Viktor kehrte nach jedem Gefängnisaufenthalt wieder dahin zurück. Dort traf er eines Tages meinen Bruder, der ihm meine Adresse gab. Mein Bruder glaubte an das Gute im Menschen. Warum sollte sich Viktor nach all den Jahren nicht geändert haben?
So begegnete ich Viktor nach vielen Jahren wieder. Er war Weltmeister im Dauerbankdrücken, wie er mir stolz erzählte. Den Titel hatte er im Gefängnis erarbeitet. Er hatte einen großen goldenen Pokal mitgebracht, den er in der Kneipe nebenan deponierte, damit wir, wenn wir zum Essen gingen, stolz darauf hinweisen konnten: "Hier sitzt der Weltmeister im Dauerbankdrücken." Lange und ausführlich beschrieb er mir, wie schwer es gewesen war, diesen Titel zu erringen. Er brauchte es für sein Selbstbewusstsein. Viel hatte er nicht zu bieten.
Das Sprichwort: "Alte Liebe rostet nicht", schien sich zu bewahrheiten. Viktor wollte bei mir bleiben und hatte in unserer Heimatstadt einen Job angenommen, bei dem er morgens auf einen Baukran kletterte und abends wieder herunter kam, wie er sagte. Während ich die Kinder versorgte und in die Bäckerei zum Putzen ging, verdiente er sein Geld also angeblich als Kranführer. Regelmäßig an den Wochenenden besuchte er uns. Viktor hatte trotz seines guten Jobs kein Geld, aber viele Schulden. Ihn brachte das zur Verzweiflung.
Eines Tages kam er mit einem Kopf an, der blau und rot glühte wie eine Laterne. Gesicht und Oberkörper waren mit blauen Flecken übergossen. "Ich hatte Streit in einer Kneipe", erzählte er mir. Da ich nicht wusste, was er die Woche über trieb, glaubte ich ihm. Denn die Nachrichtenübermittlung aus der alten Heimat ging gelegentlich stockend vor sich. Meine Mutter und mein Bruder waren gekränkt. Ich hatte das getan, was meine Mama mir vor vielen Jahren verboten hatte.
Später beichtete er mir, dass er sich die blauen Flecken geholt hatte, als er mit einem Tresor die Treppe hinunterfiel. Den Geldschrank hatte er gestohlen, weil er mir und meinen Kindern etwas bieten wollte, wie es sich für einen richtigen Mann gehört. Nun wollte er wissen, ob ich zu ihm halten würde, wenn er wieder ins Gefängnis ...
Die Zeit, in der ich mit den Männern spielte, war lange vorüber. Ich nahm ihm die Entscheidung ab, bestellte ihm ein Taxi und schickte ihn in unsere Heimatstadt zurück.
Er war ein erfahrener Zigarettenautomatenknacker, Geldhinterzieher und Weltmeister. Er drohte mir, sich an mir zu rächen, wenn er aus dem Kittchen zurück sei. Als Ausgleich dafür saß ich Jahre später neben ihm in seinem sauberen, rauchfreien Wagen.
Bestimmt werde ich ihn wieder sehen. Später, im Altenheim. Er wird in einem Ohrensessel sitzen, seine grauen Haare werden noch karg den Kopf bedecken und sein Zahnersatz wird beim Sprechen klappern. In der Hand wird er das Guinness-Buch der Rekorde aus dem Jahr 1988 halten. Dort ist er als Weltmeister eingetragen. Wenn er mich sieht, wird er sich langsam aus seinem Sessel erheben, mir meinen Rollstuhl bringen und mir hinein helfen. Dann wird er mir das Buch in die Hand drücken. "Schau mal nach auf Seite 89", wird er sagen. Und ich werde das Buch aufblättern und fragen: "Steht da etwas über dich?"
© "Alte Liebe rostet nicht" – eine Kurzgeschichte von Heidrun Böhm. Die Abbildung zeigt eine Mauer der Burgruine Gräfenstein bei Merzalben in der Südwestpfalz (© Winfried Brumma)
Zur Autorenseite von Heidrun Böhm.
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