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Das Licht passte sich der Tageszeit an, wurde langsam golden, und mittels perfekter Streuung wurde die Illusion eines Sommerabends hervorgerufen. Der alte Mann schaute verzückt durch die riesige Panoramascheibe seines Wohnzimmers im luxuriösesten Loft der Stadt.
Draußen sah es natürlich völlig anders aus, keine Frage – in der Realität gab es diese goldenen Lichter am Tagesausklang schon längst nicht mehr. Aber wozu gab es diese hervorragende Illusion, diese ausgefeilte Beleuchtungstechnik, die einen Menschen in seine Jugend zurückversetzen konnte. Vorbedingung war natürlich, dass man sich diese Nobelillusion leisten konnte – und einige konnten das auch. Der Großteil der Bevölkerung musste sich allerdings mit der schleimhautreizenden Wirklichkeit abfinden. Der Mann schob die Hände in die Hosentaschen seiner hervorragend geschnittenen Kombination aus Rohseide und genoss das technische Spiel mit dem Licht.
Als hinter ihm die Türe geöffnet wurde, drehte er lächelnd den Kopf und hob die Hand. "Guten Abend, mein Junge. Setz dich doch." Der Ankömmling, ein Teenager von etwa sechzehn Jahren, dankte lächelnd und ließ sich lässig auf die Ledercouch sinken, die so platziert war, dass man den Blick über die Skyline Berlins genießen konnte, wenn man saß.
"Danke, dass du dir Zeit genommen hast, Großvater. Ich finds toll, dass du mir bei meinem Referat helfen willst. Über die zwanziger und dreißiger Jahre weiß ich nur, was wir in den Büchern haben." Mit einem entwaffnend offenen Lächeln sagte der Junge noch: "Ist ja ziemlich lange her."
Der alte Mann strich mit der Hand über seine gepflegte, weiße Haarmähne und nickte gutmütig. "Das ist so, Junge – aber es schadet nicht, wenn du weißt, wie es damals gewesen war, auch wenn wir mittlerweile das Jahr 2070 schreiben. Deine Mutter sagte, du brauchst Informationen für ein Referat. Frag einfach – ich werde dir antworten, so gut ich kann."
"Ja also, Großvater, da du die Zeit, um die es geht, noch richtig miterlebt hast, frag ich einfach mal." Er zückte ein papierdünnes Tablet und einen goldfarbenen Stick, warf seine grünsilberne Stirnsträhne zurück und beugte sich vor. "Was mich interessiert ist vor allem, wie es dazu kam, dass die neue Gesellschaft gegen Ende der dreißiger Jahre des Jahrhunderts etabliert werden konnte. Soweit ich weiß, gab es vorher das Bildungschaos und die Sache mit den Arbeitsplätzen. Konnten sich die Leute damals tatsächlich selbstständig irgendwo einen Job suchen?"
Lächelnd nickte der Alte. "Tatsächlich war es so – und dadurch herrschte ein großes Durcheinander. Die Technik war schon sehr weit fortgeschritten damals, auch wenn die 'Volks', wie sie ja dann genannt wurden, das nicht wirklich wussten. Wir waren damals zu weit mehr in der Lage als publik gemacht wurde – auch auf dem medizinischen Sektor. Die Automation ...", ... hier legte der Mann die Hände aneinander und senkte für einige Sekunden in scheinbarer Ergriffenheit den Kopf, "... war so umfassend geworden, dass wir nur mehr einen Bruchteil der Volks als Arbeitskräfte brauchten. Es war gut vorgearbeitet worden am Anfang des Jahrtausends ... kluge Köpfe mit dem nötigen Engagement hebelten langsam das Bildungssystem aus."
"Davon hab ich gelesen", sagte der Junge. "Die Schüler wurden mit wertlosem Wissen vollgestopft, nach Herkunft und sozialer Stellung sortiert oder so was." Er lächelte. "Und irgendwie wurden die Schulen immer schlechter, bis natürlich auf die richtigen Schulen für uns. Stimmt doch, oder, Großvater?"
Der Alte nickte amüsiert. "So in etwa, Junge. Das Problem war, dass Bildung jedem zustand. Daran konnte erst einmal nichts geändert werden, denn wie du ja weißt, hatten wir damals noch die Regierungsform der Demokratie. Etwas absolut Unrealistisches und vor allem wenig Profitträchtiges. Jedenfalls wäre es so gewesen, hätten die besitzenden Realisten nicht eingegriffen und ihren Einfluss geschickt genutzt. Tatsächlich wurde das Bildungssystem unterminiert, so dass es den Volks immer schwerer fiel, die nötigen Abschlüsse für gehobene Arbeiten zu machen. Das Kapital hatten wir immer stärker angezogen, die Geschäfte liefen praktisch im luftleeren Raum über den Volks, was dazu führte, dass diese immer weniger von der Wirtschaft hatten."
"Gab es denn keine Proteste, Großvater, oder merkten die das nicht?"
"O doch, viele begehrten auf – aber wie uns die Antike lehrt, braucht das Volk Spiele, um ruhig zu bleiben. Das Internet wurde für jeden zugänglich gemacht, auch wenn er nur das Mindeste an Mitteln hatte. Dafür hatten wir gesorgt. Es funktionierte prächtig. Die Bedürfnisse verschoben sich, und niemand merkte mehr so recht, was eigentlich vor sich ging. Wir brauchten die Volks nicht mehr – jedenfalls nur einen Bruchteil davon. Alle wichtigen Dinge lagen schon in unserer Hand – es ging nur noch darum, dass wir den Profit maximierten."
"Ma-xi-mier-ten." Der Junge sprach das Wort leise vor sich hin, während er es auf seinen Screen übertrug. Dann sah er aufmunternd seinen Großvater an. "Was wir brauchten, waren Volks, die völlig in unserer Hand waren – Menschen ohne Bildung und mit genug Angst davor, nichts zu haben, um sich zu betäuben, dass sie alles machten, was sich bot. Nachdem also die meisten Schulabschlüsse abgeschafft wurden – keiner der Volks hätte einen erreicht – wurde die Mindestunterstützung herabgesetzt. Wer also ...", ... hier lachte der Alte mit funkelnden Augen auf, "... auch etwas von den schönen neuen Dingen haben wollte, der musste den Hintern rühren. Die meisten taten das, nach einigen Jahren schlugen sie sich um die Drecksarbeit. Einige Bessergebildete – oder sagen wir 'flinkere Gelegenheitsnutzer' machten Verleihfirmen für Volks auf. Das duldeten wir eine Zeit lang, bis wir das Geschäft völlig übernahmen. Es ging um die perfekte Kontrolle, Junge."
"Und dann wurde, nach Ablauf von ...", ... hier zögerte der Teenager ein wenig, "... etwa zwanzig Jahren die Leibeigenschaft wieder eingeführt."
"Du hast deine Hausaufgaben gar nicht so schlecht gemacht", sagte der Alte beifällig. "Da wir am Anfang noch nicht die Mittel hatten, um die Volks auf ihre Gebiete zu konzentrieren, um sie so besser in der Hand zu haben, lieferten wir ihnen Feindbilder. Das ist etwas, das immer funktioniert, mein Junge. Sie waren – da sie kaum noch über echte Informationen verfügten – verwirrt und vor allem hatten sie Angst. Wir lenkten das geschickt in unserem Sinne, und dann war alles so, wie du es jetzt siehst. Natürlich war es ein langer Weg gewesen, aber es hat sich gelohnt."
"Hmja, Großvater – ich denke schon. Ich habe noch nie einen von den Volks gesehen – nun ja, von weitem vielleicht."
"Das ist auch nicht nötig, Junge. Die Folks halten einiges am Laufen, noch brauchen wir menschliche Hände für manches. Dinge, die einfach zu bewerkstelligen sind. Für alles andere sind wir zuständig. Vielleicht kommt einmal eine Zeit, in der nur Menschen wie wir diesen Planeten bevölkern werden ... unsere hervorragenden Ingenieure und Wissenschaftler arbeiten am perfekten System, das so gut wie keine Helfer mehr braucht. Eine saubere Welt wird das sein, ohne die stinkenden und hässlichen Zonen für die Volks. Sie sind unsere Sklaven – aber es könnte sein, dass sie einmal nutzlos werden."
Er hatte sich in Hitze geredet und wedelte sich mit der sorgsamst manikürten Hand etwas Luft zu. Der Junge sah ihn aufmerksam an und sagte dann nach einer kleinen Pause: "Großvater – wenn es soweit ist, was geschieht dann mit ihnen?"
Der Alte beugte sich vor und legte eine Hand auf die Schulter seines Enkels. Mit funkelndem Blick sagte er: "Unsere Ärzte arbeiten daran. Vielleicht ... ja vielleicht kommt irgendwann wieder eine kurze Zeit der Seuchen."
© "Damals als es die Demokratie noch gab": Kurzgeschichte und Fotos von Winfried Brumma (Pressenet), 2013.
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