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Schicksale von Deportierten, zahllose Berichte gibt es darüber. Viele Beschreibungen – auch solche, die in die Tiefe gehen – jede einzelne davon ist allein durch den Stoff beeindruckend.
Die scheinbaren Nebensächlichkeiten und vor allem die Alltäglichkeiten sind meist die Glieder, die die Kette des Schreckens bilden, erst dünn und kaum spürbar, aber dann schwer und belastend. Wirklich gute Erzähler lassen den Leser maßgeblich an dieser Kette mitschmieden, indem er sich völlig in die Geschichte – oder wie in diesem Fall – hinter die Stirn der Hauptperson begibt.
Herta Müller beschreibt in ihrem Roman "Atemschaukel" meisterhaft die alltäglichen kleinen Eindrücke, die wie Blitzlichter mehrere Male aufflackern und punktgenau etwas beleuchten. Die grünen Wollhandschuhe von der Tante, oder der rotseidene Schal – diese Dinge sind wie lässig in den Vordergrund gerückt. So wie sie im beiläufigem Fokus des Protagonisten erscheinen, der gerade 17 Jahre alt ist und in ein russisches Lager deportiert werden soll.
Gerade diese Beiläufigkeit lässt schnell Unbehagen aufkommen, ebenso dringlich wie jenes des jungen Mannes, der den bevorstehenden Abtransport eigentlich als glückliche Fügung sieht. Daran schuld ist sein eigenes Gefühl der Enge, die noch nichts mit dem überfüllten Waggon zu tun hat. Seine Enge resultiert aus Ängsten. Er lebt in einer Zeit, in der "Rendezvous" mit Männern im Park oder öffentlichem Bad geächtet sind und unter Strafe stehen. Und so vorsichtig er auch ist, er hat Angst. Reizworte, die unabsichtlich fallen gelassen werden, versetzen ihn in Panik oder in ein zwanghaftes Grübeln. Herta Müller beschreibt einen Menschen, der sich durch Schweigen erdrückt und beengt fühlt – durch das eigene Schweigen. "Das Schweigen im Nacken ist etwas anderes als das Schweigen im Mund." Der junge Mann will fort, an "einen Ort, der mich nicht kennt."
So erzählt Herta Müller die Geschichte von einem, der sich hoffnungsvoll in ein noch nicht bekanntes Grauen begibt, weil seine Situation ihm unhaltbar – eigentlich unlebbar scheint. Der Leser, der eine ungefähre Vorstellung davon hat, was den jungen Mann erwartet, nicht nur im Lager, sondern schon auf dem Transport, liest die mit großer Bildhaftigkeit und eingängig geschilderten Gedankengänge des Helden und schaudert vorab.
Und als die Menschen sich dann im Zug wiederfinden, geschehen Dinge, die sich noch immer in das Alltagsleben übersetzen lassen. Gefrorene Ziegen, die als Nahrungsmittel in die Waggons geworfen werden, enden als Brennmaterial – trocken wie sie sind. Und dann begleiten sie die Menschen durch die Zeit des Hungerns. Es ist fast humorig beiläufig, was der Junge dazu meint. Aber die Erinnerung an etwas Essbares, das nicht gegessen wurde, wird später im Lager zur fixen Idee. Das nimmt der Junge vorweg, bleibt in der Gegenwart aber bei seiner beiläufigen Weise. Der Leser denkt voraus, ist aber auch fasziniert von Trudi Pelikans Pelzärmeln, die wie zwei halbe Hündchen aussehen, und manchmal wie ein ganzer Hund.
Herta Müllers Art der Erzählung ist virtuos, sie wirkt durch ein gewisses "Understatement", das aber mehr fesselt, als es vielleicht eine leidenschaftliche Schilderung könnte.
Die Fahrt in den höllischen Alltag des Lagers und der dortige stufenweise aufkommende Horror, der vom Verstand gefiltert werden muss, damit es nicht untragbar ist, wird zur weiteren Kette von genau eingesetzter Sprache gefügt und führt den Leser wie an einem Handlauf immer weiter in die Hölle, die den Helden erwartet. Seine eigene Logik und Sicht der Dinge machen es für ihn und auch für uns überlebbar.
Und zu einem einzigartigen Leseerlebnis in einer Sprache, die wirklich zeigen kann, was gemeint ist.
Das Buch Atemschaukel von Herta Müller gibt es als Taschenbuch, gebundene Ausgabe sowie als E-Book im Handel.
© "Buchempfehlung: Atemschaukel": Rezension von Winfried Brumma (Pressenet), 2010. Bildnachweis: Stacheldraht, CC0 (Public Domain Lizenz).
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