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(Januar 2011) Tunesien hat einen Märtyrer, er heißt Mohamed Bouazizi und starb mit 26 Jahren durch eigene Hand. Er verbrannte sich in der Öffentlichkeit, weil er am Leben scheiterte – oder besser gesagt an der Unmöglichkeit, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Das ist in Tunesien für niemanden mehr einfach, denn Armut und Willkür sind längst das Normale geworden.
Der junge Mohamed verkaufte Gemüse, um Bücher kaufen zu können, denn er hatte ein großes Ziel – er wollte studieren und so seine Familie unterstützen und vor der Armut bewahren. Kopfschüttelnd denkt man an dieses afrikanische Land, in dem Menschen soweit gebracht werden, dass sie in ihrer Verzweiflung einen äußerst schmerzhaften Freitod wählen, um ein Zeichen zu setzen.
Aber warum so weit in die Ferne blicken? Sehen wir uns doch einmal im eigenen Land um. Genau wie Mohamed Bouazizi tut hier der Deutsche Michel so gut wie alles, um sich das Leben leisten zu können. Leben – das heißt natürlich mehr als das Allernotwendigste zu haben, selbst wenn es zum Fristen des Daseins genügen würde. Da liegt die Betonung auf "würde", denn mit der multimedialen Dauerberieselung von wunschentfachender Werbung kann von niemandem verlangt werden, dass er auf alles verzichtet, was den Alltag ein wenig angenehmer machen kann.
So kann es durchaus sein, dass am Monatsersten die Familie durchrechnet, was bleibt, wenn alles bezahlt ist, das nun einmal bezahlt werden muss. Da sitzt die Angst mit am Tisch, denn die Rechnungen allein für die Lebenshaltungskosten werden höher, das Einkommen aber nicht. Werden mehrere Posten teurer, zum Beispiel die Energieversorgung oder das Benzin, werden die Müllgebühren erhöht oder kommt eine Mieterhöhung, dann ist der ganze Etat hinfällig – und wieder muss irgendwo eingespart werden. Kann eine Rechnung nicht innerhalb der Frist gezahlt werden, laufen Zinsen und Mahngebühren an ... ein Entkommen gibt es kaum.
Was hier geschildert wird, betrifft eine Durchschnittsfamilie. Das bedeutet, dass mindestens ein Mitglied arbeitslos oder erwerbsunfähig ist. Manche geben an dieser Stelle auf, erklären sich für zahlungsunfähig und lavieren am Existenzminimum, finden sich mit dem Verlust der Reputation und dem völligen Verlust des Selbstwertgefühles ab, werden letztendlich krank deswegen und landen endgültig am Rand der Gesellschaft. Ein Rand übrigens, der sich bedenklich in das Zentrum des Kreises vorschiebt und mittlerweile einen großen Teil der Fläche einnimmt.
Andere wollen nicht aufgeben, egal was es sie kostet. Sie nehmen jeden kleinen Job an, lassen sich ausbeuten von unseriösen (Zeitarbeits-)Firmen und werden zu Nervenbündeln zwischen Zeitungsaustragen im Morgengrauen, Prospektverteilen und den Putzjobs. Sie arbeiten unter dem Strich mehr als solche, die das Glück eines festen Jobs mit tariflicher Entlohnung haben und sitzen doch mit dem grauen Angstgespenst über den unerbittlichen Zahlen. Und während sie tun was sie können, werden sie diffamiert und an denen gemessen, die kein Interesse an Arbeit haben und müssen mit der Polemik leben, die auf sie und ihre Kinder zielt.
Diejenigen, die in diesem Land so leben, werden mit billigen Waren zugemüllt – mit elektronischen oder anderen Spielzeugen der Discounter, damit sie still halten. Die "Ein-Euro-Läden" werden zu den Begegnungsorten der künstlich hergestellten Armen. Man verwehrt ihnen aber den Zugang zu einem wirklichen, werteorientierten Leben, indem man ihnen vorenthält, was dazu nötig ist.
Von zehn günstigen Bildungs- oder Freizeitprogrammen für Kinder – oder Erwachsene mit geringem Einkommen – sind acht ersatzlos gestrichen. Die Schulen können ihren Auftrag nicht mehr erfüllen, die Einsparungen betreffen sie in besonderem Maße. Zu sagen, dass in diesem Land Bildung nur noch für gut Verdienende ein erreichbares Ziel ist, darf nicht als düstere Prognose, sondern muss als Realität gesehen werden.
In Tunesien gibt es mittlerweile mehrere Opfer der unmenschlichen Zustände ... hier wohl auch. Man muss keine menschlichen Fackeln brennen sehen, man muss nur aufmerksam die Nachrichten lesen. Es sei denn, man verleugnet jedweden Zusammenhang zwischen erhöhtem Gewaltaufkommen und allgemeiner wirtschaftlicher Situation. Stellt man den aber her, weiß man, dass es schon viel zu viele Opfer gibt. Ständige Angst macht nun einmal böse und aggressiv – der junge Tunesier zog es vor, sich selber zu zerstören, anstatt ein Kind totzuschütteln oder in der U-Bahn jemanden zum Krüppel zu schlagen.
© "Leben am Rand der Gesellschaft": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2011.
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