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Läden gibt es eigentlich keine mehr – jedenfalls, wenn es sich um Lebensmittelläden handelt. Bei denen denkt man irgendwie an dunkles Holz, einen sonderbaren Geruch, der sich aus wer-weiß-was-alles zusammensetzt und irgendjemand, der hinter einem Tresen steht und im Laden ebenso Bescheid weiß wie über die Kundschaft – meist der Geschäftsinhaber.
Man geht also zum Discounter – einen von vielen, die sich neu errichtete Einkaufsviertel teilen und dort meist Tür an Tür, bzw. Riesenparkplatz an Riesenparkplatz stehen. Hier will keiner den so genannten Tante-Emma-Läden nachweinen, die kann es heutzutage nämlich nicht mehr geben. Außer vielleicht, wenn ein richtig reicher Mensch sich so ein Hobby gönnt und einen kleinen Laden aufmacht.
Aber zurück zur Schlange an der Kasse, das ist nämlich nicht einfach anstehen, sondern ein kleiner Abenteuerurlaub so zwischendurch. In manchen Ketten gibt es längere Schlangen als in anderen, was wohl am eingesetzten Personal liegt. Dieselbe Frau, die gerade noch schwere Kartons in Regale geschoben hat, rennt einen Augenblick später an eine geschlossene Kasse, um sie aufzumachen, spätestens dann, wenn die Schlange am bislang einzigen Zahlungsterminal zu lang und die Kommentare der Wartenden biestig geworden sind.
Atemlos hechelt die Kassiererin dann: "Sie können gerne hierher kommen", was eine Art Anschauungsunterricht für ein Naturgesetz anlaufen lässt. Bei dem einladenden Ruf der Frau an der Kasse passiert das, was immer passiert: So gut wie alle lösen sich aus der einen Schlange, um eine neue an der anderen Kasse aufzubauen. Die Klugen warten da, wo sie die ganze Zeit über gestanden haben, denn da kommen sie weitaus schneller dran.
Man selber hat einen einigermaßen vollen Wagen, und hinter einem steht ein Kind mit einer Tüte Orangensaft. Durchwinken. Der Mann mit dem Six-Pack unter dem Arm kann auch vor, die ältere Dame mit dem Toastbrot auch. Warum? Es macht einen nervös, wenn man minutenlang Sachen auf das Laufband legt und einem ungeduldigen Kunden beim Tänzeln und "auf das Handy schauen" zusieht. Früher wäre es die Uhr gewesen, aber das hat sich geändert. Meist werden also die Leute mit nur einem oder zwei Artikeln vorgelassen, einfach weil man selber mehr Ruhe beim Aufladen haben will. Oder man winkt schnell die Frau mit dem Warensortiment auf den Armen durch ... schließlich hat man selber auch schon keine passende Münze oder Chip für den Einkaufswagen gehabt. Oder man wollte doch nur eben Zucker holen ... kennt man eben.
Eine neue Spezies hat sich in den Warteschlangen etabliert: die Leute, die auf ihr Handy oder iPad starren und ihren Einkauf vollautomatisch machen. Sie würden es kaum mitbekommen, würden die Leute an der Kasse nackt ihren Job machen. Sie befinden sich in einer anderen Welt, ihnen kommt aber zugute, dass die meisten Märkte über automatische Türen verfügen. Den Blick heben sie nämlich nicht wieder von ihrem kleinen Kommunikationswunder, sobald sie ihre Ware in der Tüte haben.
Die Seniorin, die sorgfältig nach Münzen in ihrer Börse sucht und dadurch den Unmut der Anstehenden auf sich zieht, ist Vergangenheit. Das müssen heute viele machen und kaum einer regt sich noch darüber auf. Durch die großzügig verschobenen Ladenschlusszeiten hat auch das Schimpfen über die Rentner aufgehört, die in den "Stoßzeiten" einkauften und mit dem Kramen in der Börse den "ganzen Betrieb" aufhielten. "Die haben doch den ganzen Tag Zeit, was müssen die grade dann einkaufen, wenn hier Hochbetrieb ist", das war so ein Standardsatz gewesen. Heute regt sich niemand mehr auf – auch wer bis 19 Uhr arbeitet, kann noch die nötigen Sachen einkaufen. Und so manche haben sich auf die Zeit um die 21 Uhr herum eingependelt – da hat das Ganze etwas Gemütliches und die Märkte sind nicht mehr so voll.
Die Männer und Frauen, die das Ganze am Laufen halten, sind nicht so begeistert von den langen Öffnungszeiten, was nicht wundert. Dafür gibt es eben einen Minijob mehr – Vollzeit ist praktisch abgeschafft in diesem Beruf. Von da bis dann und umgekehrt, so und so viele Stunden in der Woche, dazu Praktikanten. Irgendwie läuft es eben, und man versucht, sich gegenseitig nicht das Leben schwer zu machen.
Sogar in den Läden der großen Ketten werden Beziehungen aufgebaut – wer immer im selben Markt einkauft, kennt mit der Zeit das Personal und umgekehrt. Ein winziges Schwätzchen während man, nach Teebeuteln suchend, an dem Mann vorbeikommt, der gerade Kaffee einsortiert, sorgt für eine etwas familiärere Atmosphäre. Es handelt sich meist um ein oder zwei Sätze oder vielleicht nur ein Lächeln und ein "Hallo". Aber das reicht eigentlich, um die Anonymität aufzubrechen.
Der "Tante-Emma-Laden" ist etwas, das wir mit uns führen. Einfach weil es natürlich ist, sich auszutauschen, während man mit der Nahrungsbeschaffung beschäftigt ist. Es erinnert irgendwie an die großen Wasserlöcher in Afrika, wo praktisch jedes Tier im Umkreis irgendwann vorbeikommt. So verschieden sie auch sind, trinken müssen sie alle und halten eine Art Burgfrieden, während sie es tun. Aber es dient auch der Kommunikation untereinander, so wie im Supermarkt.
Eine Belastungsprobe für die Beziehung von Kunden und Angestellten sind Feiertage. Auch wenn es sich nur um einen Tag handelt, an dem nicht geöffnet ist, horten die Leute Lebensmittel, als stünde eine wochenlange Belagerung bevor. Soll heißen: sie kaufen ein wie verrückt. Es hat etwas irrationales, aber wahrscheinlich liegt es irgendwo in unserer Genetik, dieses Vorratshaltungs-Gen, das uns vor dem Darben schützen soll.
Ob nun in der offenen Savanne oder beim Discountmarkt ... das Prinzip ist dasselbe. Also unterwerfen wir uns dem Ritual des Wochenendes und erlegen fertig abgepackte Beute, um sie zu unseren Lieben nach Hause zu schleppen, oder aber die Vorratshaltung des Singlehaushaltes zu optimieren. Einzig und allein mit dem Ziel, das nächste Einkaufen so lange wie möglich hinauszuzögern. Wieso das nie so richtig klappt und man montags dann schon wieder in der Schlange steht, hat noch niemand herausgefunden. Vielleicht zieht es uns ganz einfach zum Wasserloch.
© "Kassensturz: Unser Hang zum Schlangestehen": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2013. Bildnachweis: Bahnhof Leipzig, CC0 (Public Domain Lizenz).
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