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Ich las mal wieder halbherzig die Jobanzeigen durch, ließ mich vom Betrieb in der kleinen Stehkombüse, die sich als Café ausgibt, ablenken, hob hier oder da mal eben lasch die Hand, um so etwas wie ein Winken zu symbolisieren. Dieser Hinrichtungsort für jedes Kaffeearoma ist eine einzige Zumutung, aber dafür einigermaßen beheizt und billig. Deshalb trifft man hier viele Studenten, mich eingeschlossen.
An dem Tag hing ich völlig übermüdet an einem dieser imitierten Bistrotische und versuchte, nicht in eine Art Wachkoma zu verfallen. Das liegt daran, dass ich mein Studium zum allergrößten Teil selber finanziere. Ich hatte zu der Zeit bestimmt drei Aushilfsjobs, dafür keinen einzigen festen mit nennenswerter Bezahlung. Für uns gibt es nicht eben viel, und wenn man Studentin ist – mit der Betonung auf "in" – fällt noch so einiges weg. Liegt nicht an mir, ist aber nun mal eine Tatsache.
Spaltenlang suchte man "Mitarbeiter für den Außendienst", um irgendwelchen Leuten etwas zu verticken. Das ist nichts für mich – verkaufen liegt mir nicht, ich kann nicht mal mich selber von einem Kauf überzeugen, weil ich echt auf jeden Cent gucken muss. Dann gab es eine Unmenge Anzeigen, in denen Tagesmütter gesucht wurden – ebenso nichts für mich. Ich brauchte entweder Jobs, die in kleinen Blöcken laufen, oder so was wie Nachtarbeit, damit ich meinen Stoff irgendwie bewältigen konnte. Die Rumrennerei von einem miesen Laden zum anderen, um den Springer zu machen und nebenbei diese Zeitschriftenzustellungssache machten mich langsam aber sicher kirre – ich hatte nie genug Schlaf, um geistig einigermaßen klar zu sein. Ich wusste gar nicht mehr, wie sich ein ausgeruhter Körper anfühlt.
Dann merkte ich, dass ich unten am Ende der Spalte eine Anzeige fixierte – wahrscheinlich war ich ein wenig weggetreten – passierte mir öfter. Jedenfalls riss ich die Augen auf und las: "Nachtmutter dringend gesucht". Was war das denn nun – eine Nachtmutter? Eine Art Concierge für ein Bordell könnte das sein, dachte ich und wollte schon die Zeitung weglegen – dann las ich doch noch einmal die kleiner gedruckten Zusätze. "Großzügige Entlohnung" stand da. Meine Güte, wer formulierte etwas denn auf diese abgefahren altmodische Weise? Außerdem war es eine Chiffreanzeige. So was gab's eigentlich kaum noch – man schreibt die Personen nicht direkt an, sondern über die Zeitung als Mittler.
Irgendwie war mir nach sinnlosen Aktionen zumute an diesem Nachmittag – und ich kramte Papier und Stift aus meinem Rucksack, den ich als Büchertasche benutze. Wahrscheinlich war mir langweilig gewesen, oder ich wollte die Hetzerei zu der Wäscherei, in der ich dreimal wöchentlich jobbe, hinauszögern. Jedenfalls schrieb ich eine Bewerbung – erzählte, dass ich Studentin war und an dieser Stelle interessiert sei. Blah blah blah. Handynummer angefügt – und dann brachte ich das zur Redaktion – war eben um die Ecke.
Etwa eine Woche später – ich hatte die Anzeige mit der Nachtmutter schon fast wieder vergessen – hatte ich Post. Solches Briefpapier hatte ich noch nicht oft gesehen – steifes Zeug und ziemlich dick. Bütten nennt man das, glaube ich. Und die Schrift haute mich um – sehr wahrscheinlich mit einem Füller geschrieben und gestochen akkurat, so mit hübschen Schnörkeln und so. So schreiben kann nur, wer einiges an freier Zeit hat. Und Geld hat, um sich solche luxuriösen kleinen Ausfälle wie diese nostalgische Nummer hier leisten zu können.
Jedenfalls lud man mich zu einem Vorstellungsgespräch ein. Und obwohl ich noch nicht lange in dieser Stadt hier lebte, war sogar mir klar, dass die angegebene Adresse zu den Stadtteilen gehörte, die ich kaum zu Gesicht bekam – außer, wenn ich Zeitungen austrug. Mir kam der Zeitpunkt ein wenig seltsam vor – denn da wir Dezember hatten, war es um acht Uhr abends schon dunkel. Aber schließlich suchte man ja eine "Nachtmutter". Passte also.
Also machte ich mich am folgenden Freitag auf den Weg. Die Straßenbahn war mir zu teuer, um meine potenziellen Arbeitgeber kennenzulernen. Wie ich schon sagte – das Haus war tatsächlich eine dieser alten Villen, die hier und da so ein Türmchen haben, mindestens zwei Erkerfenster und ein schmiedeeisernes Tor. Gab es in diesem Viertel sehr viele, und an einigen sah ich Schilder von Arztpraxen, Steuerberatern oder Anwälten, schmuck und in poliertem Messing. Jede Menge alter Bäume sorgten für Stimmung, wäre eine Pferdekutsche vorbeigerollt, hätte es mich nicht überrascht. Was aber da mit Rädern vor den Häusern stand, verfügte über sehr viel mehr Pferdestärken und war ebenso makellos glänzend. Als ich nun das Tor geöffnet hatte – es quietschte überhaupt nicht – flammte eine Lampe auf. "Aha", dachte ich, "Bewegungsmelder – also doch keine Zeitreise." Manchmal bin ich etwas albern – außerdem liebe ich Science-Fiction-Geschichten. Oder tat das irgendwann einmal, als ich noch Zeit zum Lesen hatte.
Was ich nun wirklich toll fand, war der altmodische Türklopfer. So einen Löwenkopf mit Ring im Maul hatte ich bisher nur in Filmen gesehen, aber gerade als ich danach greifen wollte, machte jemand die Tür auf. "Schade", dachte ich und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Vor mir stand eine freundlich lächelnde Dame, schwarzhaarig und sehr schlank. Sie mochte ungefähr in den Dreißigern sein und sah umwerfend aus. Sie begrüßte mich sehr herzlich, nahm mich am Arm und zog mich in das Haus. Dabei sprach sie unentwegt auf mich ein – aber das war kein Plappern, sie hatte eine sehr eindrucksvolle, wohlmodulierte Stimme und gab durchaus keine Plattheiten von sich.
"Ich bin wirklich sehr froh darüber, dass Sie sich auf unser Inserat gemeldet haben. Sie sind Studentin, nicht? Das ist perfekt, wirklich perfekt." Dann saßen wir in einem Salon – das Wort "Wohnzimmer" würde es nicht treffen. Es sah alles einfach umwerfend aus – wie in einem alten Film. Aber nicht überladen oder so – es war wirklich geschmackvoll.
Auf dem Tisch stand schon ein Tablett mit Tee – sehr aufmerksam, außerdem mag ich Tee. Und da kam ich endlich richtig zu Wort und fragte, was für eine Arbeit das denn sei. Da öffnete sich eine der Türen, die es im Salon gab, und ein attraktiver Herr mit drei Kindern betrat den Raum. "Aha", ging es mir durch den Kopf, "der Gatte und die lieben Kleinen." Das bestätigte sich auch, und ich muss sagen, dass ich ausnahmsweise einmal leicht verlegen war wegen meiner Klamotten. Die passten absolut nicht – und meine kurze Wuschelmatte mit der grünen Strähne wahrscheinlich auch nicht. Der Kerl machte eine kurze Verbeugung und strahlte mich an wie einer dieser Kerle im Frack, die man in den Filmen sieht, auf die meine Oma stand. Und die Kinder toppten das – zwei Mädchen um die Zehnermarke herum und ein Junge, der so etwa fünf Jahre alt war. Und so was von höflich habe ich noch nie erlebt – die waren erzogen wie die Fürstenkinder. Wahrscheinlich besser, weil sie wirklich freundlich waren.
Und um die Kinder ging es dann ja auch. "Wissen Sie, meine Liebe, wir sind meist nachts außer Haus. Jedenfalls den größten Teil der Nacht. Und da kämen Sie ins Spiel." Als der Mann das gesagt hatte, blickte er hilfesuchend zu seiner Frau, welche dann auch brav den Ball auffing. "Unsere Kinder sind ebenfalls bei Nacht aktiv, das ist angeboren und wir sehen keinen Grund, das in irgendeiner Weise ändern zu wollen. Außerdem könnten wir es gar nicht."
Ich sagte nichts, sah die Familie nur erwartungsvoll an. Mittlerweile hatte ich verstanden, dass diese Kids Aufsicht brauchten, wenn die Eltern nachts sonst was taten. Okay – mir konnte das recht sein – eigentlich hatte ich so einen Job ja gesucht. Wenn jetzt noch die Bezahlung stimmte ... und da nutzte ich die Gesprächspause, um danach zu fragen. Die Summe, die mir der Herr des Hauses da nannte, verschlug mir erst mal die Sprache, was bei mir nicht oft vorkommt. Dieser eine Job würde mich von den anderen Sklavenhaltern befreien – ich würde nur jeden Abend hier antanzen müssen, so etwa um neun Uhr. Dann sollte ich mit den Kindern also die Nacht verbringen – Schularbeiten machen ("Wir unterrichten die Kinder selbst", hatte die Dame gesagt), mit ihnen spielen und so etwas wie eine Freundin für sie sein. Ein "Ansprechpartner", wie der Vater sagte. So etwa eine Stunde vor Sonnenaufgang wäre dann Schluss – also genug Zeit, um zu schlafen, kleine Besorgungen zu machen und vor allem, um zu lernen. Ich hatte richtig Angst, dass ich das alles nur träumen könnte, denn wann kommt es schon mal vor, dass sich fast alle Probleme mit einem Schlag lösen lassen.
Die Kinder sahen mich erwartungsvoll an – nette Kinder, klug – das hatte ich schon herausgefunden – es würde Spaß machen, mit ihnen zusammen zu sein. Die ganze Familie war sehr nett – wenn sie auch ebenso blass waren wie ich selber. Als ich dann meine Zusage gab, klatschte die Mama tatsächlich in die Hände – und die Kinder fielen ihr um den Hals. Papa lehnte sich mit einem Lächeln vor und zog einen Arbeitsvertrag aus seinem Jackett. Ich wollte gerade meine Unterschrift setzen, als mir ein wundervoller Spiegelrahmen auffiel, der über dem Kamin hing, und ich konnte nicht widerstehen, hineinzusehen. Und dann gefror meine Bewegung, mein Puls wahrscheinlich auch, und der Füller blieb da, wo er war ... zwei Zentimeter über dem Papier. In dem Spiegel war nur ich zu sehen. Keine Mama, kein Papa, keine Kinder. Und dann sah ich wieder zu meinen künftigen Arbeitgebern ... sie waren meinem Blick gefolgt. "Antoinette, ich hatte dich doch gebeten, den Spiegel abzunehmen, Liebste." Diese Worte kamen leise und fast verzweifelt. Die Kinder sahen mich entsetzt an und die Mama war den Tränen nah.
"Sie wissen jetzt, wieso wir eine Nachtmutter brauchen", hauchte die Dame. Und der Gatte sagte: "Seien Sie versichert, dass Sie völlig unbeschadet Ihrer Aufgabe nachgehen werden – wir brauchen jemand, der unsere ... Eigenart ... nicht hat. Und wir wollen, dass unsere Kinder in Kontakt mit der Tagwelt leben, zumindest mit einem ihrer Vertreter. Natürlich müssten wir Sie bitten, zu schweigen."
Ich habe die nützliche Eigenschaft, sehr schnell eine Sache durchdenken zu können. Und obwohl ich, während die Kinder mir ihr freundlichstes Lächeln zeigten, die gut ausgebildeten Eckzähne bemerkte, die ich vorher nicht wahrgenommen hatte, senkte ich den Füller auf das Papier und unterschrieb. Ein Aufseufzen wurde hörbar, und ich begann meine Arbeit im Hause ****** (Sie werden verstehen, dass ich den Namen der Familie nicht preisgeben möchte). Ich habe keinen einzigen Tag bereut, und heute, da ich meine eigene Kanzlei führe, freue ich mich immer noch auf den Urlaub, den ich in den Karpaten verbringe – jedes Jahr, seit die Familie Deutschland verließ, um wieder einige hundert Jahre im Land ihrer Väter zu leben. Wir sind – so könnte man sagen – eine Familie, wenn wir auch verschieden sind – wie Tag und Nacht.
© "Nachtmutter dringend gesucht! Großzügige Entlohnung": Kurzgeschichte von Winfried Brumma (Pressenet), 2013. Die Abbildung zeigt ein Detail aus dem Gemälde "Familienfest" von Niko Pirosmani (um 1900), Lizenz: gemeinfrei.
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