|
Vielleicht kennen Sie ja das Buch "The Green Mile" von Stephen King. Oder den Film. Wenn ja, waren Sie vielleicht von dieser kleinen Maus fasziniert, von Mister Jingles. Ich war das jedenfalls auf Anhieb. Denn ich kannte auch so eine Wundermaus. Vielleicht nicht ganz so wie das Zirkusmäuschen aus der Geschichte Stephen Kings, aber immerhin sehr besonders.
Die Geschichte spielt in den frühen siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Ich hatte gerade meine erste eigene Wohnung bezogen und fühlte mich sehr erwachsen. Meine Großmutter wohnte auf derselben Etage und half immer dann aus, wenn sie dachte, dass es notwendig wäre. Sie hatte auch durchaus jedes Mal recht damit.
In diesem Haus waren keine Haustiere erlaubt, jedenfalls Katzen und Hunde nicht. Alles andere interessierte wahrscheinlich niemanden. Wie auch immer, einer meiner Kumpels hatte eine sehr tierliebe Mutter, die auch vor wagemutigem Aktionismus nicht zurückschreckte. Lange bevor "Tierbefreier" in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt waren, klaute die gute Frau Labormäuse aus der amerikanischen Schule, die diese Tiere für den Unterricht hielt und die im Lehrfach Biologie eine nicht besonders zuträgliche Rolle zu spielen hatten.
Die Tierchen verteilte sie dann auf die Haushalte ihrer Bekannten, nachdem ihre eigenen Kapazitäten erschöpft waren. Mir wurden zwei Mäuse zugeteilt: eine weiße mit roten Augen und eine wildfarbene. Ich nannte die beiden kleinen Hausgenossen Plattewatz und Sullewum, einer Eingebung folgend.
Leider verschwand die weiße Labormaus und war unauffindbar. Der hübsche dunkelbraune Mäuserich, Plattewatz, war auch ein kleines Ausbrechergenie. Aber – er blieb da. Nachdem der Käfig verlassen war, machte sich Plattewatz ein angenehmes Leben. Er schleppte geklautes Polstermaterial hinter den großen Küchenofen, der noch mit Holz und Briketts beheizt wurde. Zwischen Ofen und Wand war eine Handbreit freier Raum. Und den annektierte der Ausbrecher. Nachdem ich sein Nest entdeckt hatte, ließ ich ihn gewähren. Da er sehr reinlich war, säuberte ich seine "Ecke" für die Geschäftchen und nahm hin und wieder das Polstermaterial fort, um ihm neues hinzulegen.
Plattewatz krabbelte an den Stuhlbeinen und von da an der Tischdecke hoch, saß dann frech und äußerst freundlich zwischen den Kaffeetassen, um Krümel und andere Aufmerksamkeiten zu ergattern. Meine Besucher fanden das hinreißend, und ich denke, kaum eine Maus ist jemals freiwillig so gut verköstigt worden. Hatte er genug von der Aufmerksamkeit und den Magen gefüllt, verschwand er und ging eigenen Geschäften nach.
Plattewatz war ein nützlicher Mitbewohner, denn ich denke da an die beiden netten Damen, die ich in die Wohnung gelassen hatte und die nicht müde wurden, mir eine Versicherung aufzudrängen. Die Sache erledigte sich dann aber von selbst, denn der Mäuserich des Hauses erklomm die Tafel und setzte sich vor den beiden Vertreterinnen in Positur. Sie verabschiedeten sich hastig und ohne Vertrag, was ich Plattewatz sehr hoch anrechnete.
Meine Großmutter sah sich als natürlichen Feind aller Mäuse und kam aus dem Kopfschütteln über mein sonderbares Haustier nicht mehr heraus. Aber sogar sie verfiel dem charmanten Mäuserich, und das kam so: Ich wusste meist nicht, wo sich der Mäuserich aufhielt – außer natürlich, wenn er seinen Auftritt hatte und Streicheleinheiten und Leckerbissen schnorrte. Hin und wieder wischte er mit mir durch die Wohnungstüre und erkundete das Stiegenhaus und wohl auch den Hof. Aber sobald er das leid war, setzte er sich auf den Fußabtreter und wartete dort, bis ich wieder nach Hause kam.
Das hatte meiner Oma dermaßen imponiert, dass "Plattewatz beobachten" eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen war. Sie war hingerissen, wenn der Winzling auf der Fußmatte saß und sich putzte, oder einfach so dasaß und mit seinen Knopfaugen das Treppenhaus beobachtete. "Wie ein Hündchen ist das Vieh, das ist ja kaum zu glauben", sagte sie dann immer wieder kopfschüttelnd.
Plattewatz und ich lebten eine lange Zeit zusammen, etwa zwei Jahre. Dann war er verschwunden. Es wird ihm wohl etwas zugestoßen sein, denn in der Nachbarschaft gab es eine Metzgerei. Er kann durch Gift ein Ende gefunden haben oder vielleicht auch einer Katze begegnet sein. Eines Tages kam er nicht mehr nach Hause.
Das ist sehr lange her, aber ich sehe ihn immer noch auf der Tischdecke sitzen und alle reihum mit seinen Äugelchen ansehen, dann die Beute zierlich wie ein Eichhörnchen aufknuspern. Er hat keine Kunststücke gemacht, so wie Mister Jingles, die Wundermaus aus der Green Mile.
Aber von Freundschaft hat er wohl etwas verstanden, der wildfarbene Mäuserich. Und sehr besonders war er auf jeden Fall.
© "Ein nützlicher Mitbewohner: Plattewatz die Wundermaus": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2015. Foto der Waldmaus: Rasbak, Creative Commons-Lizenz.
Archive:
Jahrgänge:
2022 |
2021 |
2020 |
2019 |
2018 |
2017 |
2016 |
2015 |
2014 |
2013 |
2012 |
2011 |
2010 |
2009
Themen:
Rezensionen |
Krimi Thriller |
Ratgeber |
Sagen Legenden |
Fantasy Mythologie
Noch mehr Bücher lesen (Werbung):
Fantasy & Science Fiction
| Krimis & Thriller
| Ratgeber
| Reise & Abenteuer
Sie schreiben anspruchsvolle Romane und Erzählungen? Wir suchen neue Autorinnen und Autoren. Melden Sie sich!
Wenn Sie die Informationen auf diesen Seiten interessant fanden, freuen wir uns über einen Förderbeitrag. Empfehlen Sie uns auch gerne in Ihren Netzwerken. Herzlichen Dank!
Sitemap Impressum Datenschutz RSS Feed