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Irgendwo in unserer kleinen Stadt wohnt ein kleines Mädchen mit blonden Haaren und blauen Kulleraugen. Das kleine Mädchen heißt Nadja. Sie ist ein freundliches und lustiges Kind mit vielen Ideen. Nadja geht noch in den Kindergarten. Sie hat eine Menge Freunde dort.
Aber irgendwie genügt ihr das nicht. Sie möchte etwas Besonderes haben. Etwas, das nur sie hat. Andere Kinder haben einen Hund, eine Katze, oder Geschwister. Aber Geschwister zu haben, ist ja schließlich noch nichts Besonderes, findet sie. Nadja hat außer ihrer Mutti, Vati, Opa sowie ihrem Meerschweinchen Moppel niemanden. Am liebsten hätte sie einen Freund, um den sie jeder beneidet.
Nadja steht am Fenster, während sie so nachdenkt. Draußen schneit es wieder, denn es ist ja Winter. Heute hat sie mit Vati draußen einen Schneemann gebaut. Einen wunderschönen, mit einem alten Hut von Opa, einer Möhrennase und einem Besen. Er ist ein ganzes Stück größer als Nadja. Sie kann ihn vom Fenster aus sehen, und sie ist mächtig stolz.
Sie überlegt ... so einen großen Schneemann als echten Freund zu haben, müsste einfach toll sein – der mit ihr am Frühstückstisch sitzt, und sie würden gemeinsam ihren Kakao trinken. Er würde sie jeden Tag zum Kindergarten bringen und dort auf sie warten. Das Mittagessen schmeckte ihr dann sicherlich auch besser. Und er dürfte natürlich auch mit ihrer Lieblingspuppe spielen.
Aber schöner stellte sie es sich vor, wenn sie am Abend gemeinsam zu Bett gehen. Es ist ja Platz genug in ihrem Kinderbett. Und Mutti würde ihnen jeden Abend noch eine Geschichte vorlesen. Und wie wäre es, wenn ihr größere Kinder einmal etwas Böses antun wollten? Sicher würde er sie beschützen und mit seinem Besen alle davonjagen!
Nadja wird aus ihren Träumen gerissen. Die Mutter ruft: "Nadja, komm zum Abendbrot!" Die ganze Zeit sitzt sie dann schweigend am Tisch. Auch als Opa fragt: "Na Nadja, ist etwas?", sagt sie kein Wort.
Nun liegt sie im Bett, die Mutter sitzt auf dem Rand und gibt ihr noch einen Gutenachtkuss. Nadja kann noch nicht gleich einschlafen. Das leise Klappern von Porzellan kommt aus der Küche. Mutti wäscht das Geschirr vom Abend ab, und im Wohnzimmer läuft der leise gedrehte Fernseher.
Nach einer ganzen Weile schläft sie endlich ein.
+++
In der Nacht wird Nadja plötzlich wach. Einige Minuten lang liegt sie nur ruhig da und denkt an ihren Schneemann. Wie mag es ihm jetzt wohl da draußen gehen? Vielleicht ist ihm kalt, oder fürchtet er sich so allein im Dunkeln?! Nadja steht auf und geht zum Fenster. Da draußen steht er. Im Mondlicht kann man ihn noch gut erkennen. Sie hat plötzlich eine Idee.
Das Beste wird es sein, wenn sie ihn hereinholt. Die Eltern und Opa schlafen schon. Nadja zieht ihre Hausschuhe an und schleicht langsam und leise zur Wohnungstür. Einen Augenblick bleibt sie stehen und lauscht, aber alles ist still. Was wird sie da draußen erwarten? Mutig drückt sie die Klinke herunter und läuft im Schlafanzug hinaus über den Hausflur nach draußen. Da steht sie nun vor ihrem Schneemann bis zu den Knöcheln im Schnee und friert.
Egal, dann muss es eben schnell gehen, sagt sie zu sich selbst. Doch dann stellt sie fest, dass sie ja viel zu klein ist, um einen so großen Kerl zu tragen. Sie überlegt nicht lange und trägt alle Teile einzeln hinein. In ihrem Zimmer baut sie ihren kalten Freund im Sessel wieder auf. Holt eine Wolldecke und deckt ihn damit bis zur Brust zu. Dann schaut sie ihn noch einen Moment lang an und gibt ihm einen dicken Kuss. Sie hat ein bisschen das Gefühl, als sieht er jetzt glücklicher aus.
Nun kuschelt sie sich müde und durchgefroren wieder in ihr Bett. So, nun ist Nadja mit sich zufrieden. Es war doch eine prima Idee, die sie hatte. Und morgen – ja morgen will sie gleich nach dem Frühstück mit ihrem Schneemann gemeinsam hinausgehen, zum Rodeln. Endlich hatte sie einen besonderen Freund, wie ihn niemand sonst hatte. Und mit diesem Gedanken schläft sie ein.
+++
Es ist früh am Morgen. Das Klappern in der Küche sagt ihr, dass Mutti das Frühstück herrichtet. Frischer Kaffeeduft zieht durch die ganze Wohnung. Aus dem Badezimmer hört sie das Plätschern von Wasser. Vati ist noch beim Waschen. Nadja öffnet ganz langsam die Augen und blinzelt im Zimmer umher. Dann sieht sie zum Sessel hinüber. Mit weit aufgerissenen Augen und geöffnetem Mund sitzt sie plötzlich aufrecht im Bett. Wo ist ihr Schneemann? Was war passiert?
Die Decke liegt zusammengesunken auf dem Sessel. Hut und Möhrennase liegen auf dem Boden. Unter dem Sessel ist eine riesengroße Pfütze und der Teppich ist patschnass. Nadja springt aus dem Bett. Sie rennt in die Küche, weint herzerweichend und ruft: "Mutti, wo ist mein Schneemann?"
Die Mutter weiß schon Bescheid. Sie nimmt ihr kleines Mädchen auf den Schoß und sagt dann: "Weißt du Nadja, deinem Schneemann wurde es ganz einfach zu warm in deinem Zimmer und er hat die ganze Nacht geweint. Er fühlt sich draußen eben wohler. Über den nassen Sessel und Teppich bin ich natürlich nicht glücklich. Aber wenn du mir jetzt schnell hilfst, alles wieder aufzuwischen und in Ordnung zu bringen, dann verspreche ich dir, das Opa und ich dir heute Nachmittag helfen werden, einen neuen Schneemann zu bauen!"
Da kann Nadja wieder lachen und im Kindergarten hat sie ja noch so viele Freunde ... die nicht schmelzen.
© "Der Schneemann, ein besonderer Freund" ist eine Gute-Nacht-Geschichte von Barbara Brusselmans. Zeichnung des Schneemanns: Aus dem Buch "Die Welt im Kleinen, zwölf Bilder aus dem Kinderleben" – Ein Familienbuch von Eduard Schulz mit Text von Emil Rittershaus, Flemming, Glogau 1867, Lizenz: gemeinfrei
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