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Man kennt das – jeder Stamm hat so seine Sitten und Gebräuche und ist eine Gesellschaft für sich. Tatsächlich sollte man, bevor man das Wort "Volk" gebraucht, erst einmal genauer hinsehen. So gab es zum Beispiel die vielfach zitierten Germanen nicht wirklich – jedenfalls nicht in dem Sinne, dass man von einem homogenen Volk sprechen konnte.
Denn die Leute, die sich in dem Gebiet aufhielten, das heute Deutschland ist, waren vor allem ... Kimbern, Vandalen, Sachsen, Heruler, Vidunen, Turkilinger, Ambronen, Cherusker und so weiter. Sie hatten zu ihrer Zeit keinen gemeinsamen Namen, höchstens wurde bei den "ausländischen Gruppen" jenseits der Grenzen der Name der in der Nähe lebenden Stämme auf die ganze Bevölkerung angewandt.
Was ist nun eigentlich ein Stamm? Grob gesagt, könnte man eine Gemeinschaft, die aus mehreren Clans besteht, so nennen, vor allem wenn es verwandtschaftliche oder freundschaftliche Beziehungen unter diesen gibt. Ein Clan wiederum setzt sich aus mehreren Familien zusammen, die ebenfalls verwandtschaftlich miteinander verbunden sind oder sich auf einen gemeinsamen Ahnen berufen.
Die Zugehörigkeit eines Clans kann allerdings auch erworben werden durch Einheirat oder Beitritt mit der Übernahme des Totems, Wappens oder das sonst mit einem Zeichen verbunden ist. Wenn sich mehrere Stämme ein Gebiet teilten, gab es wohl kaum nennenswerte Unterschiede in Sitte, Brauchtum oder Glauben. Das hatte wohl weniger mit Verwandtschaft oder "Volksempfinden" zu tun, als mit den Lebensumständen.
An Meeresküsten werden sich andere Bräuche etablieren als in Berglandschaften oder Ebenen. Anders als heute lebten die Menschen in großer Abhängigkeit von ihrer Umwelt und waren mit ihr auf besondere Weise verbunden. Am Anfang steht immer die Notwendigkeit zum Überleben. Was dafür irgendwie getan werden kann, wird getan werden. In einer, zum großen Teil feindlichen – oder besser gesagt – übermächtigen Umwelt ist ein Einzelner kaum überlebensfähig.
Eine Gruppe, die aus mehreren Menschen besteht, hat bessere Chancen. Die frühen Menschen überlebten durch diese Strategie und bauten sie weiter aus. Mit größer werdenden Familien und Gruppen entwickelten sich moderate soziale Verhaltensweisen, die alle auf der gemeinsamen Lebensweise gründeten. Vieles wurde beibehalten und als Brauch weitergeführt, was einmal überlebenswichtig gewesen war, gewissermaßen als Abstraktum.
Noch in unserer Zeit gibt es Blutfehden, Auswirkungen eines zur Besessenheit gewordenen Clan-Bewusstseins, das allein durch interne starre Gesetze unweigerlich Todesopfer fordert. Die Blutschuld wird vererbt, und Kinder haben ihren Racheauftrag schon in der Wiege und werden zur Vergeltung erzogen. Die Gründe für solcherart von Anfang an zerstörte Leben liegen meist so lange Zeit zurück, dass keiner mehr genau weiß, was nun eigentlich der Auslöser für das ganze Elend war.
Von diesen Ausnahmen abgesehen hat man, zumindest in Europa, ein etwas anderes Bewusstsein entwickelt. Seit die Erde gewissermaßen schrumpfte (... man also die Bewohner des nächsten Pfahlbaudorfes nicht mehr als fremde Spezies betrachtet), weiß man mehr über die anderen Bewohner des Planeten und ist eher interessiert als feindselig. Jedenfalls sollte das so sein, denn ob man nun Sushi oder Pasta speist, Bestseller in Englisch oder Russisch liest – ob die Overalls des Bodenpersonals bei der Zwischenlandung blau oder rot sind – die Unterschiede sind allenfalls dekorativ.
Meist ist das Bewusstsein, dass wir im biologischen Sinn alle miteinander verwandt sind, in den Köpfen recht gut etabliert. An den Terminals der Welt sitzen Menschen aller ethnischen Zugehörigkeiten, die global kommunizieren und ihre nationalen Besonderheiten als das sehen, was sie sind ... als interessante Variationen. Jedenfalls ist das bei einem Großteil der Menschheit so – gewisse religiöse Unterschiede verwirren zwar immer noch das gesunde menschliche Empfinden, aber auch das wird vielleicht überwunden werden. Die Menschheit ist schließlich auf das Überleben programmiert.
Man könnte also denken, dass man in Bezug auf die zu setzenden Prioritäten ein gutes Stück weitergekommen sei – aber weit gefehlt. Ein handschriftlicher Vermerk eines Arbeitgebers auf dem Lebenslauf einer Bewerberin lässt da Schlimmes ahnen. "Ossi" hatte dieser auf den Lebenslauf der Frau gekritzelt. Mit den Leuten, die aus dem geographischen Osten kommen, hat der Mann wohl irgendwelche Probleme. Das zeugt von recht gut entwickelter Ignoranz mit einem kräftigen Schuss Dummheit und hätte die Arbeitssuchende normalerweise Abstand nehmen lassen sollen.
Trotz der fatalen Lage des Arbeitsmarktes will wohl keiner in solch einem Betrieb arbeiten, dessen maßgebliche Personen den Ursprüngen der Menschen so dramatisch verhaftet sind. Die Frau allerdings wollte sich mit der Absage, bzw. der offensichtlichen Begründung, nicht abfinden und hat geklagt. Dazu bemühte ihr Anwalt das Gleichstellungsgesetz – dessen Aussage: Dass niemand wegen seiner ethnischen Herkunft benachteiligt werden darf.
Das aber würde in dem vorliegenden Fall beinhalten, dass ein "Ossi" eine eigene Volksgruppe bzw. Ethnie ist. Es hätten sich im Laufe der Zeit eigene Sprachbesonderheiten sowie Sitten und Gebräuche ergeben, meinte der Jurist, und will die Ostdeutschen durchaus als eigenständigen Volksstamm sehen. Wenn man sich die Lachtränen aus den Augen gewischt hat, solle man sich diesen Sachverhalt langsam auf der Zunge zergehen lassen und sich auf das mit Sicherheit aufkommende Übelkeitsgefühl einstellen.
Denn seit der Wiedervereinigung, die von Ost wie West sehnsüchtig herbeigesehnt wurde, ist man bemüht, so etwas wie ein nationales Gleichheitsgefühl aufzubauen. Das nämlich gab es nur am Tag der Maueröffnung und war praktisch am nächsten Tag verschwunden. Dafür gab es dann Wessis und Ossis, die sich absolut nicht leiden konnten.
Der riesige Riss beginnt sich eben mit einer hauchdünnen Haut der Heilung zu bedecken, nachdem der Schorf verschwunden ist, und die Deutschen kriegen langsam mit, dass sie ALLE im gleichen Boot sitzen, da outet sich ein Arbeitgeber als rückständig und eine Ostdeutsche will nun doch lieber einer fremden ethnischen Gruppe angehören.
Die gute Frau hofft, mit einem Gerichtsurteil in ihrem Sinne alles zunichte zu machen, was mühsam erreicht wurde. Nur weil sie Fremdarbeiter sein will – vielleicht waren die Zeiten, in denen man sich vor allem um Säbelzahntiger vor der Höhle Gedanken machen musste, gar nicht so übel ...
Frau erhält Jobabsage wegen "Ossi"-Herkunft. Quelle: Spiegel.
© "Stammessitten: Sind Ossis ein eigener Volksstamm?": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2010. Bildnachweis: Menschengruppe vor Abendmond, CC0 (Public Domain Lizenz).
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