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Freiheit ist etwas, das besungen, gefordert und hochgehalten wird, wie nicht viel anderes sonst. Jeder will sie und jedem steht sie zu. Doch welche Freiheit meinen wir? Schauen wir uns doch einmal ein fiktives Leben an, das es so oder ähnlich geben könnte.
Anna dreht das Köpfchen weg und schlägt nach dem Löffel. Sie will das Zeug nicht essen, das Mama und Papa ihr da geben wollen. Sie will nicht. Da niemand Gewalt anwenden will (im günstigsten Fall), kommt sie damit durch und bekommt etwas anderes. Möglicherweise ist diese gelungene Verweigerung die letzte ihrer Art. Es beginnt nämlich die Kindergartenzeit und da kann Anna quengeln, wie sie will. Sie wird am Morgen eine Stunde früher aus dem Bett geholt und zur Kita gebracht. Dort hat es ihr am Anfang nicht gefallen, aber jetzt hat sie sich abgefunden. Außerdem ist sie dort beschäftigt. Sie muss lernen, sich mit den Tanten da auseinanderzusetzen, und mit den anderen Kindern. Die ersten sozialen Regeln im Umgang mit Menschen, die nicht zu ihrer Familie gehören, müssen gelernt werden. Ob sie will oder nicht.
Schulzeit. Anna konnte im Kindergarten manchmal noch ein wenig darüber verhandeln, was sie nun tun wollte oder nicht, oder mit wem. Das ist vorbei. Sie muss nun genau das tun, was die Person sagt, die da vorne steht. Die Fibel herausholen oder ein Bild malen, auf dem etwas Bestimmtes sein soll. Oder muss. Sie sitzt neben einem Kind, das sie nicht mag, aber sie kann nicht einfach aufstehen und sich anderswohin setzen. Sie arrangiert sich. In der Pause kann sie sich die Kinder aussuchen. Für kurze Zeit. Aber nur, wenn sie auch ausgesucht wird. Nicht alle, die Anna mag, mögen auch Anna. Da gibt es ganz harte Regeln. Wie sie aussieht und was sie anhat. Am besten ist, sie hat die Haare so wie alle anderen und ist auch ähnlich angezogen. Auch wenn ihr das nicht so gefällt. Aber sie will nicht, dass die anderen Kinder sie auslachen. So wie sie das mit Marie tun, die komische Kleider anhat. Oder mit Lukas, der keine Schultasche hat, sondern mit so einem Beutel zum Unterricht kommt.
Anna arrangiert sich die ganzen Schuljahre über. Manchmal glaubt sie selber, dass sie Lust zu dem hat, was alle anderen gerade tun. Sie redet wie die anderen, sie redet auch jetzt zu Hause so. Das gibt Krach. Anna will ihre Freiheit haben. Das brüllt sie laut. Und dann darf sie nicht am Abend raus mit den Freundinnen. Weil es zu spät, zu dunkel und überhaupt gefährlich ist. Wenn Anna mit der Clique unterwegs ist, muss sie höllisch aufpassen, dass ihr Rang stabil bleibt. Sie darf sich nicht zu oft verweigern, auch wenn ihr manches doof vorkommt. Sie muss hin und wieder tolle Einfälle haben, muss immer vorneweg sein und darf nicht abweichen. Sonst wird sie vom integrierten Clubmitglied zu einer Randfigur, über die andere sich lustig machen können.
Anna interessiert sich nicht für Jungs. Sie hat einen Bruder, der jünger ist. Den mag sie zwar, aber er nervt. Sie weiß alles über Jungs. Dass sie nie den Klodeckel zumachen und beim Essen Ferkel sind. Und sie weiß, dass Jungs Sachen machen dürfen, die sie nicht machen darf.
Sie findet das, was die Freundinnen so sagen, blöd. Haben die denn keine Brüder? Anna liegt oft im Bett wach, weil sie über ihren Tag nachdenkt. Hat sie alles richtig gemacht? Waren Janina und Nele nicht komisch heute zu ihr? Und wer ist Finn, von dem die ständig quatschen und kichern?
Anna ist älter geworden und findet Jungs nicht mehr so doof. Eher interessant. Außerdem sind alle neidisch, wenn so einer, den alle anschmachten, einem zuwinkt. Also hat Anna Flirts. Es ist ein Spiel.
Einige Zeit später ist es kein Spiel mehr. Hat sie das mit dem Kuss richtig gemacht? Sonst erzählt ihr Schwarm vielleicht, dass sie ein Blindgänger ist. Das mit dem Knutschen muss sein, weil man ja erwachsen sein muss und keine Versagerin, die mit 14 noch nie geknutscht hat. Eigentlich findet Anna das nicht so toll. Aber sie macht mit.
Noch später weiß Anna, was es mit dem Sex auf sich hat. Also nicht mehr nur theoretisch, sondern auch praktisch. Und dass es wehtut, wenn auch nicht so schlimm wie alle sagen. Gefallen hat es ihr nicht, sie war so fürchterlich verkrampft. Außerdem konnte sie es nicht erwarten, den Freundinnen triumphierend zu erzählen, dass sie jetzt weiß was los ist.
Die Clique war beeindruckt. Und einige Mädchen erzählen jetzt rum, dass Anna eine Schlampe ist. Der Junge tut das auch. Und sie kriegt mit, dass die meisten Erlebnisse überhaupt nicht wahr sind. Die haben nacherzählt, was sie irgendwo gelesen haben. Anna hat getan, was sie dachte tun zu müssen, um jemand zu sein. Jetzt ist sie jemand. Die Schulschlampe.
Noch später kann Anna darüber lachen, denn erstens ist Sex auch anders und die jungen Männer sind nicht alle doof. Sie hat einen guten Job, ihrem Abschluss gemäß, und er macht ihr manchmal sogar Spaß. Die Kollegen sind, wie sie es gewohnt ist. Einige nett, andere hinterhältig und noch andere sogar gemein. Man muss sich anpassen. Vor allem, wenn man die Jüngste im Betrieb ist. Die Regeln hat sie schnell gelernt. Den strengen Dresscode verinnerlichen, das kennt sie ja auch seit dem ersten Schuljahr. Einer der älteren Kollegen ist einer, dem man besser nicht allein im Druckerraum begegnet. Man lächelt und versucht, so viel Abstand wie möglich zu bewahren. Eigentlich würde Anna dem Kerl gern zwischen die Beine treten und ihm sagen, dass er ein widerlicher Grapscher ist. Carla hat so etwas getan und sich beschwert. Carla ist nun nicht mehr da. Sie hatte verschwollene Augen die letzten zwei Wochen und war dann fort.
Anna denkt darüber nach. Sie wäre gerne frei von dem allem. Aber sie braucht die Arbeit. Anna freut sich aber auf den Feierabend, wenn ihr Freund Jens sie abholen wird. Er hat Konzertkarten. Ihr gefällt die Musik nicht so. Aber Jens redet schon seit Wochen von nichts anderem.
Jens hat Probleme mit seinen Eltern. Weil sein Abitur nicht gut genug war, weil er noch nicht weiß, was er studieren will (wenn überhaupt). Und weil Anna seine Freundin ist und seine Eltern sie nicht mögen. Er jobbt in einem Lager, weil er Kohle sparen will für einen Europatrip.
Noch viel später ist Anna sehr nervös, weil sie heiraten wird. Nicht Jens, der hat sich mit seinen Eltern arrangiert und die Kohle für den tollen Trip für ein Auto ausgegeben. Braucht er, wenn er Betriebswirtschaft studiert. Was er tun wird, obwohl er es hasst, wie er sagt. Er wurde immer unleidlicher und hatte auch andere Freundinnen. Annas Eltern sind nun zufrieden. Joachim gefällt ihnen. Anna hat über den altmodischen Namen gekichert, aber der Mann gefällt ihr.
Die Hochzeit wird ein Desaster. Nicht nach außen, aber für Anna schon. Sie hatte sich ein Kleid ausgesucht, aber Joachims Eltern waren nicht begeistert. Sie trägt jetzt eins, das ihre Schwiegermutter ihr aufgedrängt hat. Ihre eigenen Eltern, die viel Geld beigesteuert haben, haben die Feier Stück für Stück so arrangiert, wie sie es für richtig halten. Anna konnte sich nicht durchsetzen. Es sollte ein ganz besonderer Tag werden, aber Anna denkt nur noch an den Moment, wenn ihr Mann und sie endlich weg können.
Sehr viel später. Anna rüttelt ihren kleinen Sohn wach, damit sie rechtzeitig zur Kita kommen. Die findet Anna zwar nicht so toll, aber ein anderer Platz war nicht zu bekommen. Für die Kleine, ihr Baby, gibt es erst in zwei Jahren etwas. Zum Glück ist Annas Mutter eingesprungen. Es gefällt Anna nicht, aber sie hat keine Wahl. Joachims Mutter wäre die Alternative gewesen. Und das hätte Anna noch weniger gefallen. Sie hat ihrer Schwiegermutter das mit dem Brautkleid nie verziehen. Das mit der Wohnung und dem Auto auch nicht. Joachim kriegt es nicht mit. Er glaubt, seine Eltern wollen das Beste. Anna weiß es besser.
Joachim steht unter Druck. Im Beruf. Er will das nicht machen, was er tut. Er hatte andere Pläne. Aber er muss sich um seine Familie kümmern. Ohne Annas Gehalt wäre es wirklich schlimm. Er will nicht, dass seine Eltern einspringen müssen. Sie verlangen Unterwerfung für jede kleine Hilfe. Anna gegenüber gibt er das nicht zu. Aber er weiß, dass sie das erkannt hat. Er würde am liebsten wegfahren, irgendwohin und einfach für einige Stunden irgendwo sitzen und Ruhe haben. Er liebt die See und stellt sich vor, dort zu sein. Das Vorstellen hilft ihm ein wenig.
Anna weiß oft nicht, wo ihr der Kopf steht. Sie liebt ihre Kinder. Auch wenn sie denkt, dass sie damit noch hätten warten sollen. Aber sie war die Anspielungen leid, die immer häufiger kamen. Enkel. Alle wollten Enkel. Als wären die der Heilige Gral. Aber da sie sowieso Kinder wollten, gaben sie nach.
Wenn Anna völlig abgehetzt in der Firma erscheint, sich erst einmal durch die kollegialen Rituale arbeiten muss und dann endlich für sich allein am Terminal sitzt, denkt sie an das erste Jahr ihrer Ehe zurück. Es war nicht ganz so, wie sie sich das ausgemalt hatte, aber doch sehr schön. Dann der Junge, ein Jahr darauf das Mädchen. Damit die Enkel endlich produziert waren und sie Ruhe hatte. Davor hatte sie dann Ruhe. Aber nicht vor den Ratschlägen, den Eingriffen in die Erziehung, den morgendlichen Kämpfen und der ständigen Sorge.
Eine gute Mutter sein ist ein scharfkantiges Steinchen in ihren Schuhen. So wie damals in der Clique. Etwas, das man ständig spürt und kaum loswird. Anna überlegt, was sie falsch gemacht haben könnte. Sie ist nicht einmal dreißig Jahre alt und kaum in irgendeiner Entscheidung frei. Nicht einmal in den Ferien. Oder im Urlaub.
Sie kann nicht einmal im Urlaub dann aufstehen, wann sie will. Da sind die Kinder und Joachim. Sie kann keinen Feiertag für sich planen. Da sind die Eltern und die Schwiegereltern. Die sind weitere Steinchen im Schuh. Die Kollegen und Vorgesetzten steuern weitere spitze kleine Teilchen hinzu. Dabei sollten das Wanderschuhe werden. Solche, die einen begleiten, wenn man hinaus in die Welt marschiert.
Sie weiß, dass es ihrem Mann nicht anders geht. Seine Steinchen kommen vielleicht von anderen Dingen, aber sie tun ebenso weh. Anna mag Menschen, aber der morgendliche Grußmarathon bei allem und jedem, das nicht zu umgehende Ritual bei der Kita, der Schwiegermutter, dem Bäcker und den Kollegen kostet sie immer mehr Kraft. Obwohl das Kleinigkeiten sind. So wie das Brautkleid damals.
In manchen hellen Momenten ist Anna völlig wach und erkennt, dass es für sie so etwas wie Freiheit nicht einmal in den kleinsten Dingen gibt. Man müsste so viel ändern, für sich und die Familie. Es würde Widerstand geben, und wenn man am Morgen einfach nur lächelnd an allen vorbeiginge. – Annas wacher Moment ist schnell vorbei.
Nur in der Nacht denkt sie manches weiter. Was ist mit ihren Kindern? Was wird sie ihnen hinterlassen? Was kann sie für sie tun, damit sie nicht so viele Steinchen in ihren Schuhen haben werden? Anna schläft wieder ein, nicht nur physisch. Manche Dinge kann sie nicht denken, damit sie nicht laut schreit.
Wiederum später. Draußen, vor den Fenstern ihrer von anderen gebauten Welt ist so etwas wie eine Seuche ausgebrochen. Sie arbeitet jetzt von zu Hause aus. Die Kinder können erst einmal nicht zur Schule. Joachim ist in seinem Betrieb. Noch jedenfalls. Anna hat keine Angst vor Ansteckung, aber ihre Eltern und Schwiegereltern müssen jetzt ohne Anna auskommen. "Wegen der Kinder" ist das Zauberwort. Die dürfen nicht gefährdet werden. "Du übertreibst das doch", sagt zwar ihr Vater. Aber die Mutter ist auf Annas Seite. Die Schwiegereltern sind persönlich beleidigt, weil diese Pandemie ihnen die Oberaufsicht über Annas Familie erschwert. Anna lächelt in sich hinein.
Die Kinder sind beschäftigt und stören nicht. Sie telefonieren, gamen, lesen. Sie wollen keine Einmischung. Anna hört, dass es Leute gibt, die sich weigern, diese leichten, kaum spürbaren Stoffdinger vor dem Gesicht zu tragen. Das findet sie lustig. Es ist ihr Lächelschutz, ihre Mauer, die ihr ihren eigenen Gesichtsausdruck möglich macht. Sie mag das. Es stört sie nicht.
Diese Leute reden von persönlicher Freiheit. Das findet Anna noch lustiger. Sie denkt an ihre Steinchen im Schuh. Die werden bleiben. Das weiß sie.
© "Die Freiheit, die wir meinen: Gibt es die wirklich?": Textbeitrag von Izabel Comati und Winfried Brumma (Pressenet), 11/2020. Bildnachweis: oben Person in Ketten sowie weiter unten Paar am Strand, beide Abbildungen CC0 (Public Domain Lizenz).
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