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Nach zweijähriger Schaffenspause wurde Mitte Oktober 2021 die 16. Ausgabe der beliebten "Zwielicht Classic"-Reihe veröffentlicht.
Wer Horror und Phantastik in all seinen Facetten sucht, wird mit zehn Portionen Grusel-Literatur überrascht. Dabei kann es auch mal lustig oder philosophisch werden, doch niemals langweilig.
Die 192 Seiten starke Taschenbuch-Ausgabe dieses Magazins für Phantastik enthält eine Auswahl aus rund zehn Dekaden dunkler Literatur. Enthalten sind wie immer herausragende Storys und vergessene Perlen, diesmal aus den Jahren 1912 bis 2021. Als E-Book ist "Zwielicht Classic 16" auch im Online-Buchhandel erhältlich.
Bereits 1928 entstand die Erzählung "Das Hya-Hya-Mädchen" des Bestseller-Autors Hanns Heinz Ewers. Einen Textauszug dieser Geschichte hat uns der Herausgeber Michael Schmidt nachfolgend zur Verfügung stellt.
Was er da niederschrieb, hatte ihm seine Pflegerin erzählt. Soeur Victorine hieß sie – aber Dr. Bonhommet, der alte, augenzwinkernde Arzt, nannte sie nur Dariolette. Das verstand sie nicht, und kein Mensch verstand es in St. Maria, noch in allen fünf Landen Guayanas. Die Wahrheit zu sagen: Wer hätte es heute verstanden drüben in Europa und wer selbst in Paris?
Der Deutsche, den sie pflegte, hörte den hübschen Namen: Dariolette. Das klang in seinen Fieberträumen – leicht, schmeichelnd, wie Vogeltrillern –, Dariolette. Dann wußte er: Er kannte es wohl, dieses Wort. Nicht gehört hatte er es, nein, aber doch gesehn irgendwo – Dariolette. Wo nur?
Immer klang es um ihn herum, durch lange Wochen ums Krankenbett, immer sang es in halbwachem Schlafe – Dariolette. Er murmelte es mit trockenen Krankenlippen, hörte die Blätter draußen rascheln, fern vom Fenster her – Dariolette. Dann, einmal, als Dr. Bonhommet ihm den Puls fühlte, flüsterte er das lachende Wort.
Da zwinkerte der alte Arzt, lächelte fast. Und in diesem Augenblick wußte der Deutsche, woher er den Klang hatte: Dariolette; es war, als ob ihm der Alte den Staub im Hirne weggeblasen habe. Den Staub von dem Schubfach seines Gedächtnisses.
"Amadis von Gallia" – der weltberühmte Roman, den so begeistert einst Don Quijote las. Und den er selbst las, weil Cervantes von ihm sprach, und weil ein deutscher Student doch so gründlich sein und alles selbst lesen muß, alles! So deutlich stand das nun wieder vor ihm; er sah sich in der Bibliothek sitzen, den alten Schweinslederband in den Händen. Sah genau die Seite, von der ihn zum ersten Male der Name anlachte: Dariolette.
Die war der Königin Zofe, ihre Freundin und Vertraute; war eine, die sich trefflich schickte, Gelegenheiten zu machen. So eine war Dariolette.
Und so nannte Dr. Bonhommet nun die Schwester Victorine. Groß war sie und schlank, blauäugig und blankzähnig – er dachte immer, daß sie rotblondes Haar haben müsse unter der weißgestärkten Haube. Sehr bleich war sie, wie alle Krankenschwestern. Und war schön, gewiß war sie schön trotz ihrer vierzig Jahre. Sanft auch und gut; still war ihre Frömmigkeit und nie aufdringlich.
Die – und Dariolette?
Er schrieb das alles auf, als er auf dem Dampfer saß, der ihn von Cayenne nach Paramaribo bringen sollte, nach Georgetown und dann nach Trinidad. Schrieb auf, was Soeur Victorine erzählt hatte und das, was der alte Hospitalarzt, Dr. Bonhommet, sagte, der immer so mit den Augenlidern zwinkerte. Der hatte es wieder von Gus Martens gehört.
Also Gus, ja, das war sein Freund, mit dem er die Fahrt gemacht hatte in die Berge. Der mußte dann fort, konnte nicht warten in St. Maria, bis er gesund sein würde, vielleicht in Monaten. Aber Gus hatte dem Arzt Bericht erstattet über alles, was da geschehn war. Und Dr. Bonhommet hatte es ihm wiedererzählt, so gut er es wußte. Das hatte dann Schwester Victorine ergänzt, die einiges miterlebt hatte. Und endlich fiel ihm, nach und nach, manches selbst wieder ein; Schleier hoben sich von allzu Verwischtem. Denn er war es ja, er, dem es geschehn war; und was erlebt worden war, hatte er selbst erlebt.
Unendlich köstlich war diese Fahrt über blaueste See. So still, so glatt, so alle Nerven leise küssend. Dann: dieses langsame Gesundwerden. Dieses Auferstehn vom monatelangen Tode, dieses Einatmen neuer Kräfte durch alle Minuten des Tages. So mag sich der Schmetterling fühlen, der aus der toten Puppenhülle schlüpft, nun am Blatte hängt und langsam, langsam die schlaffen Flügel anfüllt mit warmer Sommerluft.
Auf Deck lag er in seinem Liegestuhl, lächelte, schrieb das alles auf. Diese Geschichte von ihm selbst, der tot war. Und doch nun lebte. Wieder hinausreiste. In ein neues Leben, ins Glück vielleicht.
So war es: Er war sehr krank gewesen, und jemand rettete ihn im letzten Augenblick. Das war eigentlich alles. Nur – nicht sein Freund rettete ihn, Gus Martens. Auch nicht Dr. Bonhommet, noch die Schwester Victorine. Die nicht – eine andre war es.
Sie fuhren aus, um Gold zu suchen, "El Dorado" zu finden hinter den Bergwäldern. Überall hört man solche Geschichten an der Nordküste – von Venezuela hin bis nach Brasilien, seit Jahrhunderten schon. Das schlummert ein, das lebt wieder auf, verwirrt die Köpfe und jagt sie in die Berge hinein.
Keiner aber wußte mehr davon als Gus Martens, keiner kannte besser die fünf Guayanas. Achtmal schon war er ausgezogen, den See Parima zu finden, den See El Dorados, des vergoldeten Häuptlings. Er traf Gus Martens in dem Loch San Rafael, im venezolanischen Guayana. Gus war zurück, aus der Sierra von Pacaraima: Dort war er nicht, der große Goldsee mit dem Schatze des Goldkaziken. Aber Gus wußte nun, wo er war. Jeden Abend erzählte er davon, während er die Tage zubrachte, um mühselig die neue Fahrt vorzubereiten, Maultiere und Proviant zu kaufen, indianische Knechte anzuwerben. Jeden Abend erzählte Gus Martens – hatte ihn endlich soweit, daß er einschlug, Partner wurde auf halb und halb, Kosten und Gewinn.
Dann zogen sie nach Südosten. ...
Unser Buchtipp: Lesen Sie mehr in "Zwielicht Classic 16", dem Magazin für phantastische Literatur. Das Titelbild entstammt der Feder von Oliver Pflug.
In "Zwielicht Classic 16" enthaltene Geschichten:
Silke Brandt – Vertebrae (2011)
Michael Tillmann – Tibetanisches Windspiel (2011)
Hanns Heinz Ewers – Das Hya-Hya-Mädchen (1928)
Marianne Labisch – Trost oder Qual? (2021)
Ina Elbracht – Federgeld (2014)
Frederic Brake – El Viaje (2018)
Karin Reddemann – Herzblut (2017)
Willy Seidel – Der Garten des Schuchân (1912)
Weitere Textbeiträge:
Nils Gampert – Lord Dunsany (2017)
Karin Reddemann – Die dunkle Muse (2021)
© Klassiker von Hanns Heinz Ewers: "Das Hya-Hya-Mädchen": Dem Herausgeber Michael Schmidt sowie den beteiligten Autoren danken wir herzlich für die Textauswahlen und das Coverbild, 10/2021.
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