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Es geht auf den Abend zu – es wäre die Zeit, um mit den anderen loszuziehen ... aber nicht heute, nicht heute Nacht. Mein Fluch trennt mich von ihnen, zumindest zeitweise. Meine Familie versteht das, in unserer Linie ist der Fluch verankert, niemand hat sich das ausgesucht. Früher wäre es ehrenrührig gewesen und hätte dazu geführt, dass man mich ausstößt. Aber vieles ist anders geworden und ich lebe mit dem, was mir auferlegt ist, seit es begonnen hat.
Sie spüren es, sie drängen sich an mich und berühren mich mit den Schnauzen, sie trösten mich auf die eindringlich sanfte Weise, die meinem Volk zu eigen ist und die das Herz direkt berührt. Die Gerüche des Tages verändern sich und passen sich dem niederfallenden Abend an. Für mich sind sie schwer, wie von Metall geschwängert und ich spüre sie bitter in der Nase.
Es wird Zeit aufzubrechen – ich sollte nicht hier sein, wenn der volle Mond aufgegangen ist. Ein letztes Heulen in den dunkler werdenden Himmel hinein, und ich laufe los ... fort von den anderen und in den Wald hinein. Während ich meine Läufe strecke, um so weit wie möglich zu laufen, bevor es beginnt, spüre ich diese Schwere in meinen Gliedern, die langsam ankündigt, was unweigerlich geschehen wird.
Es tut nicht weh, es ist nur, als wenn ich mit gelähmten Gliedern im See versinken würde, alle meine Sinne spielen verrückt und sind dann auf einmal kaum noch vorhanden. Die anderen wissen davon nichts, sie können es sich nicht einmal vorstellen. Keiner von uns könnte das, gäbe es nicht diesen Erbfluch, der immer wieder einmal einen von uns trifft. Wir wissen nicht, wieso das so ist ... wir nehmen es einfach hin.
Jetzt habe ich fast mein Ziel erreicht, eine versteckte Lichtung weit entfernt von den Pfaden meines Volkes. Wie immer lege ich mich in das hohe Gras vor dem abgestorbenen Baum, der einsam in der Mitte steht und erwarte es, ruhig und ohne dass ich einen Laut von mir gebe. Ich habe das Gefühl, kaum noch etwas riechen zu können und diese Steifheit überkommt mich – als ich hochblicke, sehe ich den vollen Mond über mir. Angst flutet in mir hoch, ich will es nicht – doch ist mir klar, dass ich nichts dagegen tun kann. Die Schwelle muss überschritten werden, es gibt kein Zurück dabei. Meine Welt, meine wundervolle Welt mit den tausendfachen Gerüchen und den Bildern, die sie bringen, verschwindet und ich bin abgeschnitten von allem, was mich lebendig macht. Die Geräusche der Nacht, diese unendlich und niemals schweigenden, herrlichen Laute von allem, was atmet, sie werden fast unhörbar.
Wirbel, Kreise, dann ist es da ... das Gefühl von Kälte auf der Haut. Ich bin hinübergewechselt, weiß es, noch bevor ich versuche, mich zu bewegen. Denn es ist still. Mein Volk kennt die Stille nicht, denn in unserer Welt gibt es keine Lautlosigkeit. Aber jetzt bin ich in ihr gefangen, denn meine Ohren nehmen so gut wie nichts wahr. Versuchsweise strecke ich meine Glieder und versuche meine Stellung zu ändern, stehe auf. Meine Augen sehen Dinge, die ich normalerweise nicht wahrnehme mit ihnen, das ist gut so – es ist kein Ersatz für meine anderen Sinne, die jetzt nicht funktionieren – aber eine eigene Welt eröffnet sich. Keiner von uns kann sich auch nur vorstellen, wie Farben sein können. Sie sind wie die Nase in der feuchten und lebendigen Erde ... so, als röche man mit den Augen. Ja, die Menschen haben ihre Weise, wie sie die Welt erfahren.
Ich muss mich am Baumstamm abstützen, atme ein wenig schwer. Dann taste ich, noch ein wenig unsicher, in der großen Öffnung des toten Baumes nach dem Bündel, das immer dort versteckt liegt. Die kühle Nachtluft macht, dass meine Nackenhaare sich aufstellen, was mich zum Grinsen bringt. Diese Härchen sind lächerlich.
Das Anziehen fällt mir leicht, nach der Verwandlung brauche ich nie lange, um diesen Körper zu beherrschen, obwohl er recht ungeschickt ist, was das Laufen und Springen betrifft. Als ich die Schuhe geschnürt habe, sage ich mir, dass ich mir andere Sachen besorgen muss, diese hier sehen etwas fadenscheinig aus mittlerweile. In den Hosentaschen finde ich, was ich brauche – Börse und Schlüssel zu dem kleinen Anwesen, das mir als Bau dient, Papiere und diesen ganzen Kram, den man braucht, wenn man ein Mensch ist.
Diese wenigen Tage, in denen ich mich unerkannt unter ihnen bewege, muss ich nutzen, so gut ich kann. Vom ersten Tag des Vollmondes an habe ich nicht mehr als etwa acht Tage, in denen ich in diesem Körper gefangen bin. Meine Leute zählen auf mich, denn ich bin der einzige, der in Erfahrung bringen kann, was für sie wichtig ist und der vielleicht etwas für uns tun kann. Es wurden schon lange keine Wölfe mehr erlegt in dieser Gegend ... und gefangen erst recht nicht.
Einige von uns tragen Sender, das haben wir geduldet, denn diese Menschen wollen uns nichts Böses ... sie haben wenigstens zum Teil begriffen, wie alles zusammenhängt und wollen uns schützen. Ich selber gehöre auch zu ihnen, wenn ich auch öfter "verreist" bin. Aber auf diese Weise kann ich den Fluch umkehren, zu etwas machen, das die Menschen Segen nennen. Allerdings ist mir schon öfter der Gedanke gekommen, dass es vielleicht kein Fluch ist, sondern ein Geschenk. Denn dadurch können wir unser Überleben sichern, zumindest hier in der Region. Aber ich weiß, ich bin nicht der einzige, der zwischen den Welten pendelt unter den Wolfsvölkern.
Während ich mich auf den Weg mache zu dem verwilderten Grundstück mit der Hütte, die ich bewohne und in deren Schuppen mein alter Transporter steht, genieße ich mit diesen unzulänglichen Sinnen die milde Nachtluft. Obwohl ich mich darauf freue, für mein Volk etwas zu tun, werde ich mehr als glücklich sein, wenn ich wieder auf dem Rückweg bin, die Läufe gestreckt und in Erwartung der anderen, die mich begrüßen werden, wie es nur Wölfe können.
Die Menschen sind kein völlig schlechtes Volk, nicht wirklich und sicher nicht alle ... aber unwissend sind sie und manchmal wie Welpen. Sie wissen nicht, was sie tun. Aber eines liebe ich, wenn ich gewechselt habe: das Lachen.
Während ich schon den Zaun des kleinen Anwesens sehen kann – eine wirkliche Höhle ist das nicht – kichere ich über meinen Lieblingswitz, was die Menschen betrifft. Es ist für mich der vollkommenste Spaß, den ich mir vorstellen kann. Sie glauben, und das seit Jahrhunderten, dass ein Werwolf ein Mensch ist, der sich in einen Wolf verwandeln kann.
© Erzählung sowie Illustration zu "Menschenmond": Winfried Brumma (Pressenet), 2010.
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